Impfkritiker veröffentlichen Papier mit falschen Behauptungen

13.02.2021, 10:31 (CET)

Sie reden von einer «experimentellen Impfung», mit der Menschenrechte verletzt würden. Impfkritiker aus verschiedenen Ländern Europas warnen in einem gemeinsamen Papier insbesondere vor Gefahren der Impfung mit mRNA-basierten Impfstoffen wie jenen von Biontech/Pfizer und von Moderna. Dabei werden zu einzelnen Aspekten auch bekannte Behauptungen wiederholt. (Post archiviert)

BEWERTUNG: Mehrere Behauptungen über eine angeblich zu schnelle Zulassung, damit verbundene Gefahren, Haftungsfragen oder Impfstopps sind entweder nicht belegt oder falsch.

FAKTEN: In einem Facebook-Post wird ein Brief des European Forum for Vaccine Vigilance (EFVV) geteilt. Das EFVV schließt nach eigenen Angaben Impfskeptiker aus verschiedenen europäischen Ländern zusammen und ruft zu Spenden auf, gibt auf seiner Website jedoch weder die angeblich teilnehmenden Organisationen, noch eine Mailadresse noch eine Telefonnummer an. In dem Brief äußert das Forum seine Bedenken gegen die Impfungen gegen Covid-19.

MANGELNDE PRÜFUNG? Unter anderem wird behauptet, es handele sich um eine «experimentelle Impfung». «Normalerweise» werde für eine Impfung eine Sicherheitsprüfung von 10-15 Jahren benötigt. Tatsächlich sei der Impfstoff von Biontech/Pfizer «unter Auslassung vieler Sicherheitskriterien» mit einem auf drei Monate reduzierten Beobachtungszeitraum erteilt worden. 

In der EU gab es, anders als etwa in Großbritannien oder den USA, keine Notfallzulassung. Stattdessen setzt Europa auf eine sogenannte bedingte Marktzulassung, die eine umfassendere Prüfung erfordert. Die Zulassung wurde mit einem sogenannten Rolling-Review-Verfahren beschleunigt. Dabei können Arzneimittelhersteller schon vor dem vollständigen Zulassungsantrag einzelne Berichte über die Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit ihres Präparats einreichen. Die Prüfung von Erkenntnissen beginnt also nicht erst am Ende der Entwicklung. Das Verfahren sei nicht unsicherer: «Ein Rolling Review und ein beschleunigtes Bewertungsverfahren bedeuten nicht, dass es Abstriche hinsichtlich der Sorgfalt bei der Prüfung geben wird», schreibt das in Deutschland für Impfstoffe und Arzneimittel zuständige Paul-Ehrlich-Institut.

MANGELNDE FORSCHUNG? Obwohl bisher kein mRNA-Impfstoff für Menschen zugelassen war, wurde seit mehr als drei Jahrzehnten an der Technologie geforscht - etwa für die Krebstherapie und zum Impfen gegen Tollwut, Zika oder die saisonale Grippe. Auch die deutschen Unternehmen CureVac und Biontech arbeiten schon sehr lange am medizinischen Einsatz der mRNA. Die Entwicklung des Covid-19-Impfstoffs baut nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts zudem auf anderen Vorarbeiten auf. Ähnliche Coronaviren waren bereits Auslöser der SARS-Epidemie 2002/2003 und der MERS (Middle-East-Respiratory-Syndrom)-Epidemien in 2012.

In dem Papier des EFVV wird von einem veröffentlichten Studienzeitraum von «nur zwei Monaten» gesprochen. Tatsächlich wurde die Studie im April 2020 genehmigt. Zwischen Ende Juli und Mitte November 2020 liefen Untersuchungen mit mehr als 44 000 Menschen, über die im New England Journal of Medicine berichtet wurde. Die Behauptung, der COVID-19-Impfstoff sei «unter Auslassung vieler Sicherheitskriterien» entwickelt worden, ist also nicht belegt.

NICHT WIRKSAM GENUG? Unter Hinweis auf unbestätigte Verdachtsfälle zweifelt das Papier die von Biontech/Pfizer behauptete Wirksamkeit des Impfstoffs von 95 Prozent an. Die Rechnung ist jedoch korrekt, wie ein dpa-Faktencheck vom 17. Dezember 2020 ausführlicher erläutert.

GEFAHR FÜR GESUNDHEIT? Die Impfskeptiker behaupten in dem Papier auch, dass sich eine «sehr ernste Komplikation» mit ansteigenden Nebenwirkungen und Todeszahlen in viel impfenden Ländern wie Israel und Großbritannien bemerkbar mache. Dabei geht es um die vom Antikörper abhängende Verstärkung (antibody-dependent enhancement - ADE), welche eine überschießende Immunantwort auslösen soll. Diese Wirkung eines Impfstoffes wurde etwa für das HI- und das Ebola-Virus dokumentiert. Ein definitiver Nachweis einer solchen Reaktion bei humanen Coronaviren konnte hingegen bisher nicht erbracht werden .

WER HAFTET? Weiter wird behauptet, die Hersteller des Impfstoffs seien «von jeglicher Haftung» befreit. Dies ist nach Angaben der EU-Kommission nicht richtig. Vielmehr hafte bei der bedingten Zulassung grundsätzlich der Produzent. «Der Inhaber der Marktzulassung ist für das Produkt und seine sichere Verwendung verantwortlich.» Bei einer nationalen Notfallzulassung hingegen hätte die Haftung bei dem jeweiligen Staat gelegen.

Schon im August 2020 hatte die EU-Kommission allerdings mitgeteilt, man habe mit den Impfstoffherstellern «Entschädigungsklauseln» für den Fall vereinbart, dass ein Hersteller zu Schadenersatzzahlungen verurteilt werde. Damit könnten Hersteller unter «bestimmten und strengen Bedingungen» für bestimmte Verbindlichkeiten entschädigt werden. Details über die Klauseln wurden bisher nicht genannt.

WAS GESCHAH IN NORWEGEN? In dem Papier des EFVV heißt es, Norwegen habe die COVID-19-Impfung älterer Menschen mit Vorerkrankungen wegen 23 Todesfällen eingestellt. Einen solchen Beschluss gibt es laut Norwegischem Gesundheitsinstitut NIPH nicht. Es gebe auch keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Tod von 23 alten Menschen und Corona-Impfungen. Ein dpa-Faktencheck vom 21. Januar 2021 erläutert Einzelheiten.

ALLEREGISCHE REAKTION? Das EFVV weist auch darauf hin, dass Polyethylenglykol (PEG) im Covid-19-Impfstoff von Biontech/Pfitzer enthalten sei. Dieser Stoff sei als möglicher Auslöser einer schweren allergischen Reaktion bekannt (Anaphylaxie). Polyethylenglykol (PEG) ist eine in der Pharma- und Kosmetikindustrie häufig eingesetzte Verbindung. PEG kann sich an verschiedene Stoffe binden und erhöht deren Molekülmasse. So wird unter anderem eine veränderte Wasserlöslichkeit oder eine längere Verweildauer im Körper erreicht. Bei Kosmetikprodukten wird PEG als Lösungsmittel eingesetzt.

Richtig ist, dass Menschen, die gegen PEG allergisch sind, auch beim Covid-Impfstoff besonders vorsichtig sein sollen. Das Paul-Ehrlich-Institut teilte am 30. Dezember 2020 mit, Personen, die bekanntermaßen gegen Inhaltstoffe des Impfstoffs allergisch seien, sollten nicht geimpft werden. Wer auf die erste Impfung allergisch reagiere, solle die zweite nicht mehr bekommen.

HÄUFIGES PROBLEM? Es handelt sich allerdings um ein Problem, das nicht - wie die EFVV mutmaßt - «bis zu 70 Prozent der US-Amerikaner» betreffen könnte. Laut CDC wurden zwischen dem 14. und 23. Dezember 21 Menschen wegen Anaphylaxie nach einer Covid-Impfung behandelt. Im gleichen Zeitraum wurden knapp 1,9 Millionen Erst-Impfungen verabreicht. Das bedeutet elf Fälle bei einer Million Impfungen.

UND IN DEUTSCHLAND? Laut Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts wurden bis zum 31. Januar 2021 in Deutschland knapp 2,5 Millionen Corona-Impfungen verabreicht. Dabei gab es 2846 «Verdachtsfälle von Nebenwirkungen». In 349 Fällen habe es «schwerwiegende unerwünschte Reaktionen» gegeben. Eine «anaphylaktische Reaktion» sei eine «sehr seltene Nebenwirkung»: Es habe 70 Fälle gegeben, bei denen eine solche Reaktion möglicherweise eingetreten sei.

SPÄTERE NEBENWIRKUNGEN? Der EFVV schreibt, viele Nebenwirkungen würden «erst nach Wochen, Monaten oder Jahren» auftreten. Dazu sagt eine Expertin des Paul-Ehrlich-Instituts, bei Impfstoffen seien keine klassischen Langzeit-Nebenwirkungen zu erwarten. Impfreaktionen träten üblicherweise innerhalb weniger Stunden oder auch Tage auf, selten erst nach einigen Wochen oder Monaten. Sogenannte «Langzeitfolgen» seien sehr selten. Diese könnten erst nach sehr vielen Impfungen erkannt werden. Häufige Nebenwirkungen würden in den Zulassungsstudien erkannt. Es seien aber schlicht mehr Daten nötig, um mögliche seltene Nebenwirkungen aufzuspüren.

GEFAHR FÜR DAS ERBGUT? Das EFVV-Papier äußert grundsätzlichen Zweifel an der Tauglichkeit einer Impfung mit der Boten-RNA (mRNA). Diese neue Technologie sei nicht ausreichend getestet und Covid-19-Viren seien «bereits Teil des menschlichen Genoms» - also der Gesamtheit des Erbguts - geworden.

Gemeinhin heißt es, dass eine Integration von Coronavirus-Erbgut in das menschliche Erbgut aus biologischen Gründen nicht möglich ist, weil die Erbinformationen in unterschiedlicher Form vorliegen: beim Virus in Form von RNA, beim Menschen als DNA. Da die beiden Moleküle chemisch verschieden sind, könnten sie nicht einfach miteinander verschmelzen, das Coronavirus könne also sein Erbgut nicht in das eines infizierten Menschen einbauen. «Eine Integration von RNA in DNA ist unter anderem aufgrund der unterschiedlichen chemischen Struktur nicht möglich», schreibt etwa das Paul-Ehrlich-Institut

ANDERE ERKENNTNISSE? Eine Forschungsgruppe um Rudolf Jaenisch vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge hat eine von anderen Wissenschaftlern noch nicht geprüfte Arbeit vorgelegt, wonach diese Integration unter extremen Umständen doch möglich sein könne und in sehr seltenen Fällen vielleicht auch nach einer natürlichen Infektion passiere. Die Wissenschaftler fanden zum einen in Erbgut-Daten von Zellen infizierter Menschen Bruchstücke von Virus-Erbgut. Zum anderen belegten sie in Zellkultur-Experimenten, dass die Zellen in seltenen Fällen Virus-Erbgut aufnehmen können, wenn bestimmte Erbgut-Abschnitte des Menschen überaktiviert werden. Das kann etwa bei einer Infektion passieren.

«Sollte in der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion behauptet werden, dass virale RNA wie aus dem Sars-CoV-2-Virus grundsätzlich nicht in die menschliche genomische DNA überschrieben werden kann, so ist dies tatsächlich falsch», sagt Oliver Weichenrieder vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen. Dies zeige die vorliegende Studie. Die in DNA umgewandelte und eingebaute RNA könne später wieder in RNA zurückverwandelt werden. Aber: «Solche RNA ist nicht infektiös und kann auch kein Virus mehr herstellen.»

Weil keine neuen Viren gebildet werden, sei der Einbau des Virus-Erbguts biologisch vermutlich eine Einbahnstraße, sagte auch der Virologe David Baltimore vom California Institute of Technology gegenüber dem Magazin «Science». Es sei unklar, ob beim Menschen diejenigen Zellen, die Virus-Erbgut aufgenommen haben, lange erhalten bleiben oder absterben. «Die Arbeit wirft eine Reihe von interessanten Fragen auf.»

FAZIT: Neben einer Reihe von Vermutungen enthält der Brief der nicht näher bezeichneten Impfgegner des EFVV also etliche falsche oder nicht belegte Behauptungen.

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Links:

Facebook-Post: https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=2648315085465918&id=100008623575411 (archiviert: http://dpaq.de/FlvR3)

Website EFVV (archiviert): http://dpaq.de/CRe3L

Blogpost mit Brief: https://guykaiser.lu/impfen-kritesch-iwwerleeungen-vun-enger-europaescher-associatioun/ (archiviert: http://dpaq.de/ZudeO)

Paul-Ehrlich-Institut zu Zulassung: https://www.pei.de/DE/service/faq/coronavirus/faq-coronavirus-node.html

Paul-Ehrlich-Institut zur Studie: https://www.pei.de/DE/newsroom/pm/jahr/2020/08-erste-klinische-pruefung-sars-cov-2-impfstoff-in-deutschland.html (archiviert: http://dpaq.de/yrZCe)

New England Journal of Medicine: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa2034577?query=featured_home (archiviert: https://archive.vn/cM5nU)

DZIF zu Impfstoffentwicklung: https://www.dzif.de/de/entwicklung-von-impfstoffen (archiviert: https://archive.vn/L3ua6)

Pharma-Fakten zu beschleunigter Zulassung: https://www.pharma-fakten.de/news/details/1019-impfstoffentwicklung-gegen-sars-cov-2-zu-schnell/ (archiviert: https://archive.vn/snoLy)

EU-Kommission zu Haftung: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/qanda_20_2390 (archiviert: http://dpaq.de/ZhkBS)

EU-Kommission zu Entschädigungsklauseln: https://ec.europa.eu/germany/news/20200827-vertrag-astrazeneca_de (archiviert: http://dpaq.de/6HhCm)

EU-Kommission zu bedingter Zulassung Biontech/Pfizer: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_2466 (archiviert: https://archive.vn/KGkCX)

Norwegian Institute of Public Health: https://www.fhi.no/en/news/2021/international-interest-about-deaths-following-coronavirus-vaccination/ (archiviert: https://archive.vn/kOBg0)

FDA zur Zulassung Biontech/Pfizer: https://www.fda.gov/media/144416/download (archiviert: https://archive.vn/0unl2)

Polyäthylenglykol: https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/polyethylenglykol/52855 (archiviert: http://dpaq.de/XPLnl)

CDC zu Anaphylaxie: https://www.cdc.gov/mmwr/volumes/70/wr/mm7002e1.htm (archiviert: https://archive.vn/QnPYo)

Paul-Ehrlich-Institut zu DNA/mRNA: https://www.pei.de/SharedDocs/FAQs/DE/coronavirus/coronavirus-keine-gefahr-mrna-genom.html (archiviert: https://archive.vn/LyKmV)

Studie zu DNA/mRNA: https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2020.12.12.422516v1 (archiviert: https://archive.vn/XcBWe)

Paul-Ehrlich-Institut Bericht Nebenwirkungen: https://www.pei.de/DE/newsroom/dossier/coronavirus/coronavirus-inhalt.html;jsessionid=468EC46E90287441B283115F1BF616E6.intranet232?nn=169730&cms_pos=5 (archiviert: https://archive.vn/LHeay)

Pharmazeutische Zeitung zu Nebenwirkungen: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/welche-langzeitfolgen-zu-befuerchten-sind-123411/ (archiviert: https://archive.vn/ni32O)

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