Keine Grundgesetzänderung
Sätze aus NPD-Verbotsverfahren ohne Kontext verbreitet
18.11.2022, 12:36 (CET)
Desinformationen aus der Szene der sogenannten «Reichsbürger» bezweifeln öffentlich die Souveränität Deutschlands und die Legitimität der Regierung an. Bei Facebook wird nun ein aus vielen Sequenzen zusammengeschnittenes Video verbreitet. Der Kommentar dazu: «Das Bundesverfassungsgericht verkündet, daß die BRD kein Staat des Deutschen Volkes mehr ist» (Schreibweise im Original). Ein kurzer Teil des Videos entstand tatsächlich in Karlsruhe.
Direkt nach einer Rede der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird ohne Überleitung Andreas Voßkuhle im Gerichtssaal gezeigt. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts sagt: «Sie will die bestehende Verfassungsordnung durch einen an einer ethnisch definierten Volksgemeinschaft ausgerichteten autoritären Nationalstaat ersetzen. Ihr politisches Konzept missachtet die Menschenwürde aller, die der ethnischen Volksgemeinschaft nicht angehören, und ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar.» Doch von wem spricht Voßkuhle?
Bewertung
Mit «sie» ist nicht etwa Merkel gemeint, sondern die NPD, deren Verbot das Bundesverfassungsgericht an dem Tag ablehnte. Voßkuhle führte in dem Zusammenhang die verfassungsfeindlichen Bestrebungen der Partei aus. An der Definition des Staatsvolks der Bundesrepublik Deutschland änderte sich damit nichts.
Fakten
Der Ausschnitt aus der Urteilsverkündung stammt vom 17. Januar 2017, und das Bundesverfassungsgericht fasste damals den Willen der NPD zusammen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen. Das Zitat aus dem Video findet sich fast wortgleich in den Leitsätzen zum NPD-Urteil. Das Gericht lehnte ein Verbot der Partei dennoch ab.
Die Definition des Staatsvolks der Bundesrepublik Deutschland änderte sich an diesem Tag jedoch nicht. Was verfassungsrechtlich unter dem Volk des deutschen Staats zu verstehen ist, hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise in einer Entscheidung von 1990 geschrieben: «Das Volk, von dem die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, wird nach dem Grundgesetz von den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Art. 116 Abs. 1 gleichgestellten Personen gebildet. Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk der Bundesrepublik wird also grundsätzlich durch die Staatsangehörigkeit vermittelt».
Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages führten dazu 2019 aus: «Im Übrigen wird bei der Frage der Zugehörigkeit zum Staatsvolk nicht auf ethnische oder kulturelle Kriterien abgestellt.»
Deutschland ist ein souveräner Staat
Deutschland ist souverän. Vermeintliche Belege aus dem Video beweisen nichts Gegenteiliges: So werden Teile einer Rede von Carlo Schmid aus dem Jahr 1948 zitiert, die im Kontext gesehen werden muss. Schmid wirkte in den Jahren 1948 und 1949 im Verfassungskonvent und im Parlamentarischen Rat an der Ausarbeitung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland mit.
Er begriff das Grundgesetz als ein Provisorium, da die Sowjetische Besatzungszone - die spätere DDR - nicht einbezogen wurde. Erst seit der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 und dem Zwei-plus-Vier-Vertrag ist das Grundgesetz die Verfassung der gesamten Bundesrepublik, also auch der ostdeutschen Bundesländer. Damals entschied man sich dagegen, für das wiedervereinigte Deutschland eine komplett neue Verfassung zu entwerfen.
(Stand: 16.11.2022)
Links
Post (archiviert)(Video archiviert)
Art. 116 Grundgesetz (archiviert)
FAZ-Artikel über Urteil (archiviert)
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