Erfundene Behauptungen: Hetze gegen Geflüchtete und Minderheiten in Thüringen

24.8.2022, 17:02 (CEST)

Vorurteile gegen die Minderheit der Sinti und Roma sorgen in Sömmerda für Falschnachrichten. Angeblich toleriere die Polizei dort Ladendiebstähle von Geflüchteten. Doch das ist Quatsch.

Im Netz versuchen User Stimmung gegen Geflüchtete aus der Ukraine und Angehörige der Minderheit der Sinti und Roma zu machen: «150 Roma-Großfamilien» hätten in Sömmerda (Thüringen) Wohnungen erhalten. Und die Polizei habe angeblich die örtlichen Geschäfte darum gebeten, bei Straftaten nicht die Polizei zu rufen. Stattdessen sollten Ladenbesitzer in solchen Fällen «nur» Anzeige erstatten, um entsprechende Entschädigungen zu erhalten, heißt es etwa.

Außerdem wird die Behauptung im Zusammenhang mit einem Video geteilt. Darin ist ein Mann zu sehen, der erzählt, dass die «umliegenden Geschäfte» angeblich von der Polizei gebeten worden seien, bei Straftaten «Rechnungen» zu schreiben und diese an die Behörden zu schicken - anstatt die Polizei zu rufen.

Bewertung

Es ist falsch, dass die Polizei im Landkreis Sömmerda von Anzeigen abrate und stattdessen das Schreiben von Rechnungen empfehle. Das teilte sie auf dpa-Anfrage mit. Auch der Bürgermeister von Kölleda, wo es eine Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete gibt, wies ähnliche Vorwürfe auf Nachfrage der «Thüringer Allgemeinen» zurück.

Fakten

Für den Landkreis und die Kreisstadt Sömmerda nördlich von Erfurt ist unter anderem die Landespolizeiinspektion Erfurt zuständig. Auf Nachfrage der Deutschen Presse-Agentur (dpa) teilte die Behörde mit, dass die Behauptungen in den Beiträgen «schlichtweg falsch» seien. «Jeder Ladenbesitzer hat darüber Kenntnis, dass im Falle von Ladendiebstählen und Straftaten bei der Polizei Anzeige erstattet werden sollte», erklärte ein Sprecher.

Tatsächlich haben sich Anfang Juni etwa 160 aus der Ukraine geflüchtete Kinder und Erwachsene beim Landkreis Sömmerda gemeldet; sie werden der Minderheit der Sinti und Roma zugerechnet. Das berichtete die «Thüringer Allgemeine» (Artikel mit Bezahlschranke). Zur Unterbringung der Geflüchteten wurde ein bereits zuvor als Gemeinschaftsunterkunft genutztes Gebäude im Ort Kölleda wieder hergerichtet, wie im Rahmen einer Kreistagssitzung (Artikel mit Bezahlschranke) bekannt geworden war. Am 5. August 2022 wurden dort Geflüchtete aufgenommen, so die «Thüringer Allgemeine» (Artikel mit Bezahlschranke).

Der Bürgermeister von Kölleda, Lutz Riedel (SPD), hat in diesem Zusammenhang ähnliche Vorwürfe gegenüber der Stadtverwaltung in der «Thüringer Allgemeinen» zurückgewiesen: Er habe zwar an einem Tag mit dem Chef der Ausländerbehörde des Landkreises und einem zuständigen Polizeibeamten unter anderem Supermärkte und andere Firmen besucht. Dabei ging es demnach jedoch darum, Aufklärung zu leisten und darauf hinzuweisen, dass jeder Vorfall unbedingt zur Anzeige gebracht werden solle, heißt es in dem Bericht.

Zudem seien die Ladenbesitzer auf die Durchsetzung ihres Hausrechts hingewiesen worden, um unübersichtliche Situationen im Laden durch größere Personengruppen zu vermeiden. Auch Sömmerdas Landrat Harald Henning (CDU) hatte sich laut einem früheren Bericht ähnlich geäußert: «Wenn Einzelhändler oder Kaufhallenbetreiber bestohlen werden, müssen sie dies auch zur Anzeige bringen - so wie bei jedem Bürger auch.»

Unterbringung von Geflüchteten fordert Kommunen heraus

Die Unterbringung von Geflüchteten stellt Kommunen in Thüringen derzeit vor Herausforderungen und beschäftigt auch die Politik. Der Thüringer Landkreistag hatte Mitte Juli 2022 die Landesregierung in einem offenen Brief dazu aufgefordert, selbst Unterkünfte für ukrainische Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen. Die Möglichkeiten der Landkreise zur angemessenen Unterbringung seien erschöpft, hieß es darin. Anfang August war zudem der Migrationsausschuss des Landtags wegen der Wohnraumprobleme auf Antrag der CDU-Fraktion in einer Sondersitzung zusammengekommen - dabei gab es allerdings keine konkreten Beschlüsse.

Wie aus den Berichten der «Thüringer Allgemeinen» hervorgeht, sorgt die Zuteilung von Geflüchteten auch im Landkreis und der Kreisstadt Sömmerda für gesellschaftliche Unruhe. In den sozialen Netzwerken wurden demnach seit der Ankunft der Geflüchteten Meinungen und Schilderungen persönlicher Erlebnisse sowie Vorurteile und falsche Informationen verbreitet. So konnten die örtlichen Behörden Gerüchte über angeblich falsche Pässe der geflüchteten Personen oder über Bäderschließungen wegen Wasserverschmutzung nicht bestätigen.

Minderheit der Sinti und Roma ist oftmals Vorurteilen ausgesetzt

Vorurteile und Diskriminierung gegenüber den Angehörigen jener Bevölkerungsgruppen, die sich als Sinti und Sintize beziehungsweise Roma und Romnija bezeichnen, sind nach Angaben der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) nach wie vor weit verbreitet. Antiziganismus umfasst dabei viele klassische Stereotype und Vorurteile - etwa dass all diese Menschen oder Gruppen «nicht-sesshaft», «kriminell veranlagt» und «arbeitsscheu» seien.

Auch die falsche Behauptung über die Empfehlungen der Polizei zielt in diese Richtung ab, da die Schutzsuchenden pauschal mit einer Zunahme von Ladendiebstählen in Verbindung gebracht werden. Laut der Behörde wurde jedoch keine Häufung festgestellt. «Seit der Inbetriebnahme der Geflüchteten-Unterkunft am 5. August 2022 gab es in Kölleda bzw. in Sömmerda drei Ladendiebstähle im Zusammenhang mit Tatverdächtigen, die die ukrainische Staatsbürgerschaft besitzen», erklärte der Sprecher der Landespolizeiinspektion.

Polizei ermittelt gegen Mann aus dem Facebook-Video

Das verbreitete Video beschäftigt unterdessen die Kriminalpolizei Erfurt. Gegen den Mann darin wird wegen des Verdachts der Volksverhetzung ermittelt, bestätigte ein Polizeisprecher auf dpa-Anfrage. Die Faktenprüfer von Correctiv hatten zuvor herausgefunden, dass das Video vor der Geflüchteten-Unterkunft in Kölleda aufgenommen wurde - noch bevor diese bewohnt war. Zum derzeitigen Stand der Ermittlungen wollte sich die Polizei nicht äußern.

Der Mann in dem Video betreibt einen Telegram-Kanal und ist in der Vergangenheit bereits durch das Verbreiten von Falschinformationen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie aufgefallen. Derzeit muss er sich vor Gericht verantworten, weil er im September 2020 einen Bus mit Kindern anhielt und diese aufforderte, ihre Corona-Schutzmasken abzunehmen - weil angeblich Kinder durch das Tragen von Masken gestorben seien. Die dpa hatte die Behauptung im Oktober 2020 in einem Faktencheck widerlegt.

(Stand: 24.8.2022)

Links

Facebook-Video (archiviert / archiviertes Video)

Facebook-Sharepic (archiviert)

Bericht der «Thüringer Allgemeinen» vom 9. Juli 2022 (archiviert)

Bericht der «Thüringer Allgemeinen» vom 14. Juli 2022 (archiviert)

Bericht der «Thüringer Allgemeinen» vom 5. August 2022 (archiviert)

dpa-Bericht über offenen Brief des Landkreistages (archiviert)

dpa-Bericht über Sondersitzung des Migrationsausschusses (archiviert)

bpb-Artikel über Antiziganismus (archiviert)

Correctiv-Faktencheck (archiviert)

MDR-Bericht über Gerichtsprozess (archiviert)

dpa-Faktencheck vom 13. Oktober 2020

Facebook: Sharepic mit falschen Behauptungen (archiviert)

Facebook: Video mit falschen Behauptungen (archivierter Post / archiviertes Video)

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