Russische Aussagen zu Leichen in Butscha entbehren medizinischer Grundlage

06.04.2022, 15:23 (CEST)

(Warnung: In diesem Artikel verlinkte Seiten können schockierende Bilder enthalten)

Die ukrainische Darstellung zur Entstehung der Gräueltaten im Kiewer Vorort Butscha stellen Nutzer in sozialen Netzwerken infrage. Sie stützen sich auf Aussagen des russischen Verteidigungsministeriums. Behauptet wird etwa, den Leichen, «deren Bilder vom Kiewer Regime veröffentlicht wurden», fehlten die typischen Leichenflecken (archiviert). Eine Leichenstarre sei auch nicht zu erkennen. Das belege, dass die Bilder eine «Inszenierung» seien.

Bewertung

Weder fehlende Leichenflecken noch eine nicht erkennbare Leichenstarre sind ein Beleg für eine «Inszenierung». Aus medizinischen Gründen sind diese nicht ohne Weiteres zu sehen. Die in der Jablunska-Straße gefilmten Leichen lagen schon dort, als russische Einheiten die Stadt noch besetzt hielten.

Fakten

Die Bilder der Toten in den Straßen Butschas gingen schnell um die Welt. Selten ist ein Ereignis in einem Krieg so gut dokumentiert worden. Reporter und Fotografen mehrerer Medien waren vor Ort, um sich und der Welt ein Bild davon zu machen. Vor allem die Aufnahmen aus der Jablunska-Straße zeigten das Grauen deutlich.

In einer Erklärung vom 3. April sprach das russische Verteidigungsministerium von einer «Provokation des Kiewer Regimes in Butscha». Es sei während der Besatzung «kein einziger Einwohner von jeglicher Misshandlung betroffen» gewesen - eine Behauptung, die mehreren Augenzeugenberichten widerspricht. Russische Truppen seien schon am 30. März aus Butscha abgezogen, erste Bilder der Toten aber erst «am 4. Tag» aufgetaucht, heißt es beim Verteidigungsministerium.

Russland verweist auf fehlende Leichenstarre

Außerdem findet sich in der russischen Erklärung dieser Satz: «Besonders besorgniserregend ist es, dass alle Leichen, deren Bilder vom Kiewer Regime veröffentlicht wurden, nach mindestens vier Tagen nicht erstarrten, keine charakteristischen Leichenflecke hatten und in den Wunden nicht geronnenes Blut aufwiesen.»

Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) hat mehrere aktuelle Bilder und Videos von der Jablunska-Straße ausgewertet. Sie hat außerdem Benjamin Ondruschka, dem Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), einige Aufnahmen vorgelegt und von ihm analysieren lassen.

Der Rechtsmediziner widerspricht der indirekten Behauptung des Verteidigungsministeriums, auf den Fotos der Leichen müssten Totenflecken zu sehen sein. Leichenflecken entstehen laut Ondruschka an den Körperpartien, die sich zum Zeitpunkt des Todes unten befinden. Liegt also ein Mensch auf dem Rücken, wenn er stirbt, dann bilden sich dort Leichenflecken - und nicht etwa auf dem Gesicht, das man in den Videos häufig erkennen kann.

Auch die Behauptung der angeblich fehlenden Leichenstarre entbehrt laut Ondruschka medizinischer Logik: «Leichenstarre sieht man nicht ohne Weiteres, die kann man nur am Leichnam untersuchen.» Wenn ein Toter nicht bewegt werde, ändere sich auch sehr lange die Lage eines Leichnams nicht. Es sei durchaus möglich, dass eine Leiche unter den örtlichen Witterungsbedingungen nach mindestens zwei Wochen so aussehe. Das Fazit des Rechtsmediziners: «Es gibt keinen plausiblen Grund, daran zu zweifeln, dass dort Verstorbene liegen.»

Zeitliche Abfolge in russischer Erklärung falsch

Darüber hinaus wurde die Chronologie der Ereignisse nachvollzogen, basierend auf Angaben aus offiziellen ukrainischen, russischen und weiteren Quellen:

Anders als vom russischen Verteidigungsministerium behauptet, wurden Bilder von Toten in den Straßen von Butscha schon mindestens ab dem 1. April in sozialen Netzwerken veröffentlicht - und damit bereits zwei Tage nach dem behaupteten Abzug der russischen Truppen, nicht erst vier Tage später. Die in der russischen Erklärung angegebene zeitliche Abfolge der Ereignisse ist also falsch.

Russische Einheiten hielten nach anderen Angaben des russischen Verteidigungsministeriums Butscha und andere Städte schon am 7. März unter ihrer Kontrolle. Aus Butscha abgezogen waren sie nach Angaben des Ministeriums am 30. März. Der offizielle russische Armeesender berichtete jedoch noch am Morgen des 1. April von Kämpfen in dieser Gegend.

Dies deckt sich mit Angaben, die der Sekretär des Stadtrats von Butscha in einem Video vom Morgen des 1. April macht. Darin heißt es, es gebe noch vereinzelt russische Soldaten im Stadtgebiet. Außerdem befänden sich einige Leichen in der Stadt, die schon lange dort lägen.

Satellitenbilder zeigen: Leichen lagen dort seit Wochen

Hochauflösende Satellitenbilder des US-Dienstes Maxar, die der dpa vorliegen, zeigen: Viele der Leichen lagen schon mindestens seit dem 18. März genau an jenen Stellen entlang der Straße in Butscha, wo sie mehrere Tage später gefunden wurden. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Toten sehr lange auf der Straße lagen. Zuerst hatte die «New York Times» über die Satellitenfotos berichtet.

In einem Beitrag auf seinem offiziellen Telegram-Kanal hatte das russische Verteidigungsministerium behauptet, zwei der Leichen würden sich in einer Aufnahme der Straße bewegen. Auch dabei handelte es sich um Falschbehauptungen, wie dpa in mehreren Faktenchecks nachweisen konnte.

(Stand: 6.4.2022)

Links


Facebook-Post (archiviert)

Erklärung des russischen Verteidigungsministeriums (archiviert)

Video der Jablunska-Straße, veröffentlicht am 1. April (archivierter Tweet, archiviertes Video)

Video aus Butscha, veröffentlicht am 1. April (archivierter Tweet, archiviertes Video)

Bericht der BBC aus Butscha

Video von AFP

Video der Jablunska-Straße, Twitter-Account des ukrainischen Verteidigungsministeriums (archivierter Tweet, archiviertes Video)

Video der Jablunska-Straße, Der Spiegel/Reuters

Foto von Jablunska-Straße, Facebook-Account des Stadtrats von Butscha

Foto von Jablunska-Straße bei t-online (archiviert)

Foto von Jablunska-Straße, Getty/AFP (archiviert)

Ansicht der Jablunska-Straße bei Google Maps (Aufnahme von 2015)(archiviert)

Bericht des offiziellen russischen Armeesenders (archiviert)

Telegram-Post des russischen Verteidigungsministeriums

Video auf dem Facebook-Kanal des Stadtrats von Butscha (archivierter Post, archiviertes Video)

Bericht der «New York Times» (archiviert)

Wetter in Butscha im März

dpa-Faktencheck zu Butscha

Kontakt zum dpa-Faktencheckteam: faktencheck@dpa.com