Vorwürfe über inszenierte Bilder aus Butscha sind falsch

05.04.2022, 15:43 (CEST)

Die Bilder von toten Zivilisten im ukrainischen Ort Butscha gehen um die Welt. Besonders ein Video wird in den sozialen Netzwerken oft geteilt: Es zeigt eine Fahrt durch den Kiewer Vorort, bei der viele Leichen zu sehen sind.

In einigen Beiträgen (hier archiviert) wird behauptet, dass die Videos inszeniert seien. So bewege sich bei einer Leiche die Hand, außerdem richte sich die Person wenig später wieder auf - was im Rückspiegel des Autos zu sehen sei. Zudem seien die Szenen erst mehrere Tage nach dem Abzug der russischen Truppen aufgenommen worden. Ist an diesen Vorwürfen was dran?

Bewertung

Ein Blick auf Versionen des Videos in höherer Auflösung entlarvt die Vorwürfe als haltlos. Die angebliche Hand ist ein Wassertropfen auf der Fensterscheibe des Autos. Im Rückspiegel ist eine andere Leiche zu sehen, die sich nicht bewegt. Erste Aufnahmen der Toten kursierten zwei Tage nach dem Datum, das Russland für den Abzug seiner Truppen nennt.

Fakten

Die geteilte Filmaufnahme ist in der Jablunska-Straße in Butscha entstanden. Im Gegensatz zu dem gekürzten Video aus dem Facebook-Post ist das Szenario besser in einer vollständigen Version zu erkennen, die vom ukrainischen Verteidigungsministerium verbreitet wird.

Darin ist bei höherer Auflösung zu sehen, dass es sich bei der angeblichen Hand um einen Wassertropfen handelt (bei Minute 0:11). Im geteilten Facebook-Video erscheint dieser eher wie ein weißer Fleck. Durch den Fahrtwind bewegt sich der Tropfen auf der Fensterscheibe des Autos nach oben. Legt man einen Filter über das Video, ist das noch deutlicher zu erkennen.

In weiteren Aufnahmen der Jablunska-Straße liegt der Leichnam zudem immer an derselben Stelle - etwa in diesem Video (bei Minute 0:14), in diesem Video (bei Minute 0:55) und auf diesem Foto. Am unterschiedlichen Wetter ist zudem zu erkennen, dass alle Aufnahmen zu verschiedenen Tageszeiten entstanden sein müssen.

Eine weitere Behauptung lautet: Nachdem das Auto vorbeigefahren ist, soll sich die Leiche «wieder aufsetzen». Das sei im Rückspiegel erkennbar. Allerdings handelt es sich gar nicht um denselben Toten. Im vollständigen, ungeschnittenen Video wird das deutlich, da der Blick in den Rückspiegel rund 40 Sekunden nach der vermeintlichen Handbewegung kommt und das Auto in dieser Zeit mehr als hundert Meter zurückgelegt hat. Auch Kleidung und Position der beiden Leichen unterscheiden sich. Ein Foto zeigt, dass beide Leichen an unterschiedlichen Positionen liegen - zeitgleich.

Der Blick auf das schärfere Video zeigt zudem kein Aufrichten der Person. Eine Bewegung der Leiche im Rückspiegel ist bei einer verlangsamten Wiedergabe nicht zu erkennen. Der Eindruck entsteht bei normaler Geschwindigkeit und geringerer Auflösung vermutlich nur deshalb, weil die meisten Außenspiegel eine Krümmung haben, die das Blickfeld vergrößern soll. Der Leichnam wandert während der Fahrt des Autos nach und nach über die Krümmung ins Zentrum des Rückspiegels.

Die Falschbehauptungen über die sich angeblich bewegenden Leichen wurden auch vom russischen Außenministerium über den Nachrichtendienst Telegram verbreitet.

Das russische Verteidigungsministerium versuchte zudem Zweifel an der Echtheit der Aufnahmen zu säen, indem es auf den angeblichen Veröffentlichungszeitpunkt hinwies. Diese Argumentation wurde auch von Facebook-Nutzern übernommen. Demnach sollen zwischen dem Abzug der russischen Soldaten aus Butscha und der Verbreitung der Bilder der Leichen vier Tage vergangen sein. Angedeutet wird, dass genug Zeit gewesen sei, die Bilder zu inszenieren.

Doch tatsächlich gibt es Aufnahmen aus der Jablunska-Straße, die bereits zwei Tage nach dem russischen Abzug verbreitet wurden und dieselben Leichen an denselben Stellen zeigen. Ein Video, das aus einer Nachricht in einem Messengerdienst stammen soll, wurde von einer Twitter-Nutzerin bereits am 1. April hochgeladen. Russland gibt an, am 30. März aus Butscha abgerückt zu sein. Deutlich mehr Aufmerksamkeit erregten die Szenen aus Butscha allerdings erst ab dem 2. und 3. April, als auch internationale Medien Zugang zu dem Ort erhielten und dort Aufnahmen machen konnten.

Wie die «New York Times» anhand von Satellitenbildern ermittelt hat, lagen viele der Leichen in der Jablunska-Straße bereits am 11. März an denselben Stellen, die nun auf Fotos und Videos zu sehen sind. Zu diesem Zeitpunkt war Butscha noch von russischen Truppen besetzt.

(Stand: 5.4.2022)

Links

Beitrag auf Facebook (archiviert)

Fundort der Leichen bei Google Maps (archiviert)

Vollständiges Video des ukrainischen Verteidigungsministeriums (2.4.2022) (archiviert; archivertes Video)

Video mit Farbfilter (archiviert)

Video vom selben Ort (1.4.2022) (archiviert; archiviertes Video)

Video der Nachrichtenagentur AFP (2.4.2022) (archiviert)

AFP-Foto (2.4.2022) (archiviert)

Falschbehauptungen des russischen Außenministeriums auf Telegram (3.4.2022) (archiviert)

Erklärung des russischen Verteidigungsministeriums auf Deutsch (3.4.2022) (archiviert)

BBC-Aufnahmen aus Butscha (3.4.2022) (archiviert; archivertes Video)

Bericht der «New York Times» mit Satellitenbildern (4.4.2022) (archiviert)

Video der «New York Times» mit Vergleich der Bilder (4.4.2022) (archiviert; archiviertes Video)

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