Viele falsche und unbelegte Aussagen in Video zur Flutkatastrophe
14.10.2021, 16:48 (CEST)
Bei der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen Mitte Juli 2021 sind rund 180 Menschen gestorben. Die Aufarbeitung der Geschehnisse beschäftigt auch in den Sozialen Netzwerken viele Menschen. In einem Video, das unter anderem auf Facebook kursiert, werden angebliche Ungereimtheiten und neue, unbekannte Hintergründe aufgeführt (hier archiviert; archiviertes Video). So heißt es, offizielle Hilfe sei tagelang ausgeblieben, Einsatzkräfte hätten nicht helfen dürfen, Deutschland habe EU-Hilfe abgelehnt und «sämtliche staatliche Stellen» hätten bei Warnungen vor dem Extremwetter versagt. Angedeutet werden angebliche Zusammenhänge mit Wetterexperimenten und eine angebliche «Planung» der Katastrophe. Was ist an diesen angeblichen Enthüllungen dran?
Bewertung
Einige der Behauptungen sind falsch, etwa die angeblich ausgebliebene Hilfe offizieller Einsatzkräfte oder die Angaben über den Umfang der Hilfsgelder. Zudem gibt es viele Ungenauigkeiten, Irreführungen sowie Aussagen, für die keinerlei Belege aufgeführt werden oder für die Dokumente falsch interpretiert wurden.
Fakten
Irreführend ist zunächst der Verweis auf ein Hochwasser in den 1950er Jahren in England, die Lynmouth-Katastrophe. Immer wieder gab es Spekulationen, dass dort Wetterexperimente die Überflutungen ausgelöst haben könnten. Dieser Zusammenhang ist jedoch wissenschaftlich umstritten.
Gar keine Belege gibt es für den implizierten Zusammenhang von Wettermanipulationen und der jüngsten Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen über den allgemeinen Verweis auf sogenannte Chemtrails. Anhänger dieses Verschwörungsmythos glauben, dass über die Kondensstreifen von Flugzeugen Chemikalien verteilt werden. Belege dafür gibt es keine.
Ähnlich verhält es sich mit der Vermutung, die Katastrophe könnte «geplant» gewesen sein. Das zitierte Dokument ist eine öffentlich einsehbare Unterrichtung des Bundestags durch das Bundesinnenministerium im Jahr 2013 über verschiedene Katastrophenszenarien. Beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe gibt es mehrere solcher Risikoanalysen, die jedoch keine staatliche «Planung» von Katastrophen belegen.
Es stimmt jedoch, dass es vor der Katastrophe verschiedene Warnungen gab. So warnte etwa das Europäische Flutwarnsystem EFAS vorab vor schweren Überschwemmungen. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) wies in einer Warnung auf «punktuell bis 200 l/qm teils gewittrigen Starkregen» hin. Dass «sämtliche staatliche Stellen in katastrophaler Weise versagt» hätten, ist daher ungenau: Das EFAS ist Teil eines EU-Programms, der DWD ist eine deutsche Behörde.
Öffentlich kritisiert wurden nach der Katastrophe die weiteren Abläufe im Katastrophenschutz. Ein Vorwurf lautet, dass Behörden vor Ort, also zum Beispiel betroffene Kommunen, die Warnungen nicht ernst genug genommen hätten und so viele Menschen nicht rechtzeitig gewarnt worden seien. Inzwischen beschäftigen sich parlamentarische Untersuchungsausschüsse mit den Abläufen.
Ungenau ist die Behauptung im Video über Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung «gegen Behörden». Die Staatsanwaltschaft Koblenz hatte am 6. August zwar mitgeteilt, Ermittlungen «wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen» aufgenommen zu haben. Den Angaben zufolge geht es aber zunächst nur um einen Anfangsverdacht gegen den Landrat des Kreises Ahrweiler und ein weiteres Mitglied des dortigen Krisenstabs, also zwei Amtsträger. Mehrere Behörden sind bislang nicht im Visier der Ermittler. Wie inzwischen bekannt wurde, soll der Landrat Ende Oktober in den Ruhestand versetzt werden.
Die Behauptung, offizielle Hilfe im Katastrophengebiet sei tagelang ausgeblieben, ist falsch, wie die Deutsche Presse-Agentur bereits in einem Faktencheck gezeigt hat. Dass 700 Feuerwehrleute angeblich «eine Woche lang keinen Einsatzbefehl erhalten haben» sollen, ist durch nichts belegt. Die Zahl geht auf einen anonymen Blogbeitrag zurück. Darin heißt es, es habe sich um Feuerwehrleute aus Norddeutschland gehandelt.
Die Zahl 700 taucht auch in einer Pressemitteilung des Innenministeriums von Schleswig-Holstein auf. Demnach hatten sich 700 Einsatzkräfte aus dem Bundesland am 21. Juli auf den Weg in die betroffenen Gebiete in Rheinland-Pfalz gemacht. Einer weiteren Pressemitteilung zufolge waren erste Helfer aus Schleswig-Holstein, darunter Taucher, bereits am 19. Juli dort im Einsatz.
Im Video heißt es zudem, die Bundesregierung verzichte auf europäische Unterstützung. Das wird deutschen Ausgaben für Entwicklungshilfe in anderen Teilen der Welt gegenüber gestellt. Auch hier werden jedoch verschiedene Dinge vermengt und damit verzerrt dargestellt. Richtig ist, dass Deutschland keine Hilfe über das Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen (ERCC) der EU angenommen hat. Dieses koordiniert bei Bedarf Einsätze von Hilfskräften aus verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten sowie die Verteilung von Ausrüstung und Material.
Daneben gibt es aber noch weitere europäische Angebote bei Katastrophen. Gelder für den Wiederaufbau können die EU-Staaten über den Europäischen Solidaritätsfonds beantragen. Nach Angaben der Bundesregierung will Deutschland dieses Angebot in Anspruch nehmen. Offen ist derzeit aber noch, wann das Geld bereitgestellt werden kann. Nach Angaben der EU-Kommission ist ein Großteil des Geldes aus diesem Fonds für das Jahr 2021 bereits im Zusammenhang mit anderen Naturkatastrophen ausgezahlt worden. Man prüfe weitere Finanzierungsmöglichkeiten.
Falsch ist in jedem Fall die Behauptung im Video auf Facebook, die Flutopfer in Deutschland würden «mit 400 Millionen Euro abgespeist». Diese Zahl bezieht sich nur auf die Soforthilfe des Bundes und klammert einen genauso hohen Betrag der Bundesländer Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen aus.
Mitte August beschloss das Bundeskabinett zudem einen Hilfsfonds von 30 Milliarden Euro, der über Jahre hinweg den Wiederaufbau sichern soll. Wenige Tage nach der Veröffentlichung des Videos wurde der Fonds auch von Bundestag und Bundesrat beschlossen.
Irreführend ist zudem die Behauptung im Video, dass die von menschlicher Aktivität verursachte Klimaerwärmung medial als einzige Ursache der Katastrophe dargestellt werde. Expertinnen und Experten waren nach der Flut oft vorsichtig, einzelne Extremwetterlagen wie zuletzt in Westdeutschland in einen kausalen Zusammenhang mit dem Klimawandel zu rücken. Dass Ereignisse wie extreme Regenfälle und umgekehrt auch lange Trockenperioden infolge der menschengemachten Erderwärmung häufiger auftreten, gilt wissenschaftlich aber als gesichert.
(Stand: 12.10.2021)
Links
BBC-Bericht über Lynmouth-Katastrophe (25.1.2008) (archiviert)
Einschätzung bei «WeatherOnline» (archiviert)
dpa-Faktencheck zu angeblichen «Chemtrails» (1.7.2021)
Drucksache 17/12051 des Bundestags mit Risikoanalysen (3.1.2013) (archiviert)
Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe über Risikoanalysen (archiviert)
Bericht von «Politico» über Flutwarnungen (15.7.2021) (archiviert)
Warnung des Deutschen Wetterdienstes (12.7.2021, archiviert)
Informationen über Europäisches Flutwarnsystem EFAS (archiviert)
Informationen zum DWD (archiviert)
ZDF-Bericht über Probleme bei Warnungen (16.7.2021) (archiviert)
«Süddeutsche Zeitung» über Untersuchungsausschüsse (8.10.2021) (archiviert)
Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Koblenz (6.8.2021) (archiviert)
SWR-Bericht über Landrat von Ahrweiler (8.10.2021) (archiviert)
dpa-Faktencheck über angeblich ausgebliebene offizielle Hilfe (23.7.2021)
Pressemitteilung Innenministerium Schleswig-Holstein (2.8.2021) (archiviert)
Weitere Pressemitteilung (19.7.2021) (archiviert)
EU-Zentrum für die Koordination von Nofallmaßnahmen ERCC (archiviert)
Bundesregierung über Hilfen aus EU-Fonds (archiviert am 13.8.2021)
«Zeit online» über Finanzierungsprobleme beim EU-Fonds (14.9.2021) (archiviert)
Bundesregierung über Soforthilfe (30.7.2021) (archiviert)
«Spiegel» über 30-Milliarden-Hilfsfonds (18.8.2021) (archiviert)
«SWR Aktuell» über Beschluss von Bundesrat und Bundestag (10.9.2021) (archiviert)
Klimaforscher Stefan Rahmstorf im «Tagesthemen»-Interview (15.7.2021, archiviert) (archiviertes Video)
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