Entscheidung des Verwaltungsgerichts Wien enthält Desinformationen

9.4.2021, 14:43 (CEST)

Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Wien über die Untersagung einer FPÖ-Versammlung im Jänner sorgt aktuell für Diskussionen. Vor allem die Begründungen des Richters für seine Entscheidung, dass die FPÖ-Versammlung hätte stattfinden sollen, sind brisant. Auch das Online-Portal «Info Direkt» (hier archiviert) griff die Entscheidung auf und verbreite in ihrem Artikel Behauptungen aus der Entscheidung: PCR-Tests seien nicht zur Diagnostik von Covid-19 geeignet, das sehe auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) so. Zudem verwende der Gesundheitsminister «ganz andere» Covid-19-Falldefinitionen als die WHO.

BEWERTUNG: Die Entscheidung des Gerichts enthält bereits widerlegte Falschbehauptungen und unbelegte oder irreführende Informationen. PCR-Tests sind zur Diagnostik von Covid-19 geeignet – das sieht auch die WHO so. Die Falldefinition eines bestätigten Covid-19-Falls des österreichischen Gesundheitsministeriums ist prinzipiell im Einklang mit den Richtlinien der WHO. Laut einem Verwaltungsjuristen ist die Entscheidung des Gerichts methodisch mangelhaft.

FAKTEN: In der Entscheidung geht es um eine untersagte FPÖ-Versammlung am 31. Jänner 2021. Der Deutschen Presse-Agentur (dpa) liegt das Dokument vor. Kritisiert wird darin unter anderem, dass die LPD Wien keine Versuche unternommen habe, mit der Beschwerdeführerin Kompromisse und Alternativen zu suchen, etwa einen anderen Versammlungsort. Die Einhaltung der Seuchenbestimmungen werde der Partei aus einem «Misstrauen» heraus gar nicht erst zugetraut. Darüber hinaus würde die Untersagung zur Eskalation beitragen und Spontanversammlungen befeuern. Dieses Argument war auch schon mehrmals von der FPÖ (hier, hier) selbst vorgebracht worden. «Eine Abwägung von kollidierenden Grundrechtspositionen» dürfe nicht per se zu einer gänzlichen Untersagung führen, heißt es in der Entscheidung.

In dem 13-seitigen Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien werden danach einige falsche, irreführende oder unbelegte Behauptungen angeführt, von denen «Info Direkt» einige wiedergibt. So wird etwa behauptet, dass keiner der drei vom Gesundheitsminister definierten «bestätigten Fälle» die Erfordernisse des Begriffs «Kranker/Infizierter» der WHO erfülle. Es ist nicht eindeutig, ob der Richter hier Infektionen mit Erkrankten gleichsetzt. Die beiden Begriffe sind jedenfalls voneinander zu unterscheiden.

Die Covid-19-Falldefinition des Gesundheitsministeriums (Download) ist im Einklang mit der von der WHO sowie vom European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) publizierten Definition, teilte eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums der dpa auf Anfrage mit. Das lässt sich auch auf den Webseiten der WHO und der ECDC nachlesen. «In die Falldefinition (Verdachtsfall und bestätigter Fall) von Covid-19 fließen mehrere Faktoren mit ein: epidemiologische, klinische und labordiagnostische Kriterien sowie ein diagnostisches Bildgebungskriterium», hieß es. Das Gesundheitsministerium treffe «ausnahmslos und gestützt auf die Expertise von Fachexperten Entscheidungen in Verbindung mit den Vorgaben des Epidemiegesetzes wie auch des Covid 19-Maßnahmengesetzes und seiner Verordnungen».

Vergleicht man die Falldefinitionen von Gesundheitsministerium und WHO sind Personen gleichermaßen als «bestätigt» definiert, bei denen mit einem PCR-Test oder einem Antigen-Test Sars-CoV-2-spezifische Nukleinsäure nachgewiesen wurde. Beim Antigentest müssen zudem die epidemiologischen Kriterien erfüllt sein. Zu diesen Kriterien zählen Kontaktpersonen der Kategorie I und II.

Ein Unterschied zeigt sich bei symptomatischen Personen mit positivem Antigen-Test. Während hier in Österreich gemäß Falldefinition bereits ein bestätigter Fall vorliegt, ist laut WHO-Definition zusätzlich ein Kontakt zu einem wahrscheinlichen oder bestätigten Fall oder eine Verbindung zu einem Covid-19-Cluster notwendig, um als bestätigter Fall zu gelten.

Allerdings dürfte das in Österreich in der Praxis nur bei einer Überlastung der PCR-Testkapazitäten so gehandhabt werden, wie aus den FAQs des Gesundheitsministeriums hervorgeht: «Kommt es zu einer Überlastung der behördlichen PCR-Testkapazitäten, kann bis auf Weiteres bei einer Person, die Krankheitssymptome aufweist (Verdachtsfall) und ein positives Antigen-Testergebnis hat, die Bestätigung durch einen PCR-Test entfallen.» Die Unterschiede dürften in der Praxis wohl nicht ins Gewicht fallen. Dafür umfasst die WHO-Definition auch theoretische asymptomatische Fälle, bei denen eine Röntgen-Thoraxaufnahme auf eine Covid-19-Erkrankung hindeutet.

Die WHO vertritt – anders als im Artikel von «Info Direkt» und der Entscheidung behauptet – die Ansicht, dass PCR-Tests zur Diagnostik von Covid-19 geeignet sind. Das geht aus einer Informationsnotiz der WHO vom 20. Jänner 2021 hervor, die der Richter falsch wiedergibt. Das Schreiben wurde bereits in der Vergangenheit mehrfach fehlinterpretiert.

In der Notiz werden Nutzer von PCR-Tests, also etwa Laborpersonal, dazu aufgefordert, beim Interpretieren von PCR-Testergebnissen die Gebrauchsanweisungen sorgfältig zu lesen. Besonderes Augenmerk richtet die WHO in der Notiz auf schwach-positive Resultate. Diese sollten mit Vorsicht interpretiert werden. Wenn das Testergebnis nicht mit dem klinischen Bild, also etwa den Symptomen, übereinstimme, sollte ein neuer Test gemacht werden.

Zudem sollten laut WHO die vom Hersteller empfohlenen Ct-Schwellenwerte beachtet werden. Dieser Wert ist ein Maß für die Viruskonzentration im Probenmaterial und zeigt die Zahl der Testzyklen an, die nötig sind, um Virus-RNA zu reproduzieren und damit zu erkennen, wie sich auch in einer Empfehlung des Gesundheitsministeriums nachlesen lässt.

Die WHO-Informationsnotiz ist aber nicht als Definitionsänderung von positiven PCR-Testresultaten zu sehen. Sie sagt auch nicht, dass ein positives PCR-Testergebnis per se nicht ausreicht, um eine Infektion zu erkennen, sondern dass bei schwach-positiven Ergebnissen Vorsicht geboten ist und prinzipiell auch andere Faktoren miteinbezogen werden müssen. Das bestätigte auch eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums der dpa.

Aus einem weiterführenden WHO-Dokument auf der Seite geht hervor, dass allein ein positives NAAT-Testergebnis (Anm. dazu gehört auch der PCR-Test) als bestätigter Covid-19-Fall gilt. Die WHO teilte der dpa auf Anfrage mit: «Wir möchten bekräftigen, dass wir ordnungsgemäß verwendete PCR-Tests für ein hochverlässliches Instrument zur Diagnose von Covid-19 halten.» Laut WHO ist der Hintergrund der Notiz, dass bei ein paar Fällen nicht die von den Herstellern angegebenen Ct-Schwellenwerte beachtet worden seien. Darauf mache die Notiz aufmerksam. Wie einzelne Staaten PCR-Tests zur Ermittlung von Fallzahlen einsetzen, schreibt die WHO nicht vor.

Als weiteren Beleg für die Behauptung, PCR-Tests seien nicht zur Diagnostik geeignet und würden daher für sich alleine nichts zur Krankheit oder einer Infektion eines Menschen aussagen, führt der Richter ein YouTube-Video an. Darin warnt der Erfinder der PCR-Tests, Kary Mullis, in zusammengeschnitten Ausschnitten vor einer Fehlinterpretation der Tests, da man damit «alles in jedem» finden könne, wenn man die Probe nur genügend oft repliziere. Die Schlussfolgerung, dass PCR-Tests daher nicht für die Diagnostik des Coronavirus geeignet sind, ist aufgrund dieser Aussagen unzulässig.

Es gibt keine Belege, dass Mullis die Verwendung von PCR beim Nachweis von Viren ablehnt. Auch dazu gibt es bereits Faktenchecks von dpa und Reuters. Der Ursprung dieser Behauptung liegt offenbar in einem Blogartikel (hier archiviert) von John Lauritsen aus dem Jahr 1996. In einem Absatz zitiert er Mullis mit dem Satz «Die quantitative PCR ist ein Oxymoron.» Ob das Zitat wirklich von Mullis stammt, ist unklar. Im selben Absatz steht dann geschrieben, dass PCR-Tests genetische Sequenzen von Viren nachweisen könnten, nicht aber die Viren selbst. Diese Aussagen sind aber nicht als Zitat gekennzeichnet und stammen vermutlich vom Autor des Blogbeitrags. Der ganze Artikel bezieht sich auf einen Mythos, dass das HI-Virus kein AIDS auslösen soll. Auch Mullis selbst vertrat diese Ansicht und wurde dafür kritisiert.

Prinzipiell gilt der PCR-Test unter anderem laut dem Robert Koch-Institut (RKI) als «Goldstandard» für die Diagnostik. Eine Person kann auch eine asymptomatische Infektion durchleben, trotzdem ist der PCR-Test positiv und die Person kann ansteckend sein.

Peter Bußjäger vom Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre an der Universität Innsbruck bezeichnete das Erkenntnis im dpa-Gespräch als «schräg». Kritisch sah er, dass der Richter den Wert von PCR-Tests oder auch die Datenlage was Infizierte betrifft, in Zweifel ziehe. «Dass er das freihändig als Jurist macht ohne auf medizinischen Sachverstand zurückzugreifen, halte ich für methodisch falsch», so Bußjäger. Zu sagen, PCR-Tests seien laut WHO nichts wert, das gehe eindeutig zu weit.

Prinzipiell sei es natürlich die Aufgabe des Richters die Untersagung der Versammlung für rechtswidrig zu erklären, wenn er auf Basis der vorgelegten Daten zu dieser Auffassung gelange – «Nur wie er zu diesem Ergebnis gelangt, das scheint mir schon sehr zweifelhaft.»

Explizit hob Bußjäger zudem die auch von «Info Direkt» angeführte Passage «Das Gericht stimmt den Ausführungen in der Beschwerde "in allen Punkten" zu» kritisch hervor. Das sei ebenfalls «ein bisschen fragwürdig», denn: «Man kann nicht einfach auf die Beschwerde verweisen – weder im Guten noch im Schlechten. (…) Man muss sagen, was jetzt konkret am angefochtenen Bescheid falsch ist.»

Die LPD Wien hat auf Twitter angekündigt, die Entscheidung nicht nachvollziehen zu können und außerordentliche Revision einlegen zu wollen.

Zu weiteren Behauptungen in der Entscheidung gibt es einen APA-Faktencheck.

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Links:

Aussendung von FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl: https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20210131_OTS0031/fpoe-kickl-nehammer-traegt-die-verantwortung-fuer-moegliche-eskalation-bei-protesten-in-wien (archiviert: https://archive.is/6jp0g)

APA-Artikel über FPÖ-Argument: https://www.tt.com/artikel/30783861/kickl-verteidigt-auftritt-und-attackiert-polizei-675-000-euro-einsatz-kosten (archiviert: https://perma.cc/6FUK-6HH9)

Artikel der «Salzburger Nachrichten» über Abgrenzung Infizierte/Erkrankte: https://www.sn.at/panorama/wissen/coronavirus-warum-infizierte-nicht-immer-erkrankte-sind-94108786 (Paywall)

Falldefinition Covid-19 des Gesundheitsministeriums: https://www.sozialministerium.at/dam/jcr:7cd2e2fd-faac-4f5f-acb1-8758212628d4/201223_Falldefinition%20COVID-19.pdf (archiviert: https://perma.cc/LH26-SX5D)

Falldefinition WHO: https://apps.who.int/iris/rest/bitstreams/1322790/retrieve (archiviert: https://perma.cc/5RGK-RV3R)

Falldefinition ECDC: https://www.ecdc.europa.eu/en/covid-19/surveillance/case-definition  (archiviert: https://archive.is/V6eyo)

FAQs des Gesundheitsministeriums: https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus/Coronavirus---Haeufig-gestellte-Fragen/FAQ--Testungen-und-Quarantaene.html  (archiviert: https://perma.cc/95EW-E3HY)

WHO-Informationsnotiz: https://www.who.int/news/item/20-01-2021-who-information-notice-for-ivd-users-2020-05 (archiviert: https://archive.is/IX0oO)

Empfehlung des Gesundheitsministeriums zur Entlassung von Covid-19-Fällen aus der Absonderung: https://www.sozialministerium.at/dam/jcr:531f7e21-0f53-4180-b214-848e19668b52/Empfehlung%20zur%20Entlassung%20von%20COVID-19-F%C3%A4llen%20aus%20der%20Absonderung_final_230720.pdf (archiviert: https://perma.cc/3RSB-SSM9)

Weiterführendes WHO-Dokument zu Tests: https://apps.who.int/iris/rest/bitstreams/1302661/retrieve (archiviert: https://perma.cc/6SWR-36GH)

dpa-Faktencheck zu WHO-Informationsnotiz: https://dpa-factchecking.com/austria/210208-99-354999/

YouTube-Video: https://www.youtube.com/watch?v=LvNbvD0YI54 (archiviert: https://perma.cc/4C4X-HJB2)

dpa-Faktencheck zu Kary Mullis: https://dpa-factchecking.com/germany/200805-99-54176/

Reuters-Faktencheck zu Kary Mullis: https://www.reuters.com/article/uk-factcheck-pcr-idUSKBN24420X (archiviert: https://perma.cc/6W86-G3KF)

Archivierter Blogartikel über Kary Mullis von 1996: https://web.archive.org/web/20200805124939/https://www.virusmyth.org/aids/hiv/jlprotease.htm

Robert Koch-Institut (RKI) über PCR-Tests: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Vorl_Testung_nCoV.html;jsessionid=8842BC6EB9EB651F68F8A285EAC47527.internet082?nn=13490888#doc13490982bodyText4  (archiviert: https://perma.cc/D5RU-EHP4)

Tweet der LPD Wien über Revision: https://twitter.com/LPDWien/status/1377500177217552384  (archiviert: https://archive.ph/2021.04.02-095018/https://twitter.com/LPDWien/status/1377500177217552384)

APA-Faktencheck: https://apa.at/faktencheck/desinformationen-im-urteil-des-verwaltungsgerichts/

Beitrag von «Info Direkt»: https://www.info-direkt.eu/2021/03/31/oesterreichisches-gericht-kippt-urteil-pcr-test-nicht-zur-diagnostik-geeignet/?fbclid=IwAR2LtX-ULAMIxgrUJtPJl4Tf_nESVpAsBcEM9evuFiUIBpUM-koMwWPRWLM (archiviert: https://perma.cc/8MK4-FR85)

Facebook-Beitrag dazu: https://www.facebook.com/dasmagazinfuerpatrioten/posts/281555073412802 (archiviert: https://perma.cc/Q9ZT-66KS)

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