Nicht von Dostojewski

Toleranzfeindliches Zitat falsch zugeordnet

27.7.2022, 16:08 (CEST)

Toleranz ist den Gegnern einer freien Gesellschaft häufig ein Dorn im Auge. Manche suchen Bestätigung ihrer Meinung bei Dichtern und Denkern - und verbreiten falsche Zitate.

Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der vielfältigen Kulturen dieser Welt ist nicht jedermanns Sache. Manche ziehen gegen eine ihrer Meinung nach zu große Toleranz zu Felde - und berufen sich dabei auf berühmte Schriftsteller. «Die Toleranz wird ein solches Niveau erreichen, dass intelligenten Menschen das Denken verboten wird, um Idioten nicht zu beleidigen», heißt es beispielsweise in einem Sharepic, das häufig in sozialen Netzwerken auftaucht. Die Aussage wird dort dem russischen Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski zugeschrieben - zu recht?

Bewertung

Es ist nirgendwo belegt, dass dieser Satz jemals von Dostojewski geschrieben oder gesagt wurde. Vielmehr spricht alles dagegen, dass sich der Schriftsteller so über die Toleranz äußerte.

Fakten

«Dieses Zitat lässt sich im Werk Dostojewskijs nicht nachweisen», antwortete Christoph Garstka von der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft auf eine Anfrage für diesen Faktencheck. Der Wortlaut werde fälschlicherweise dem russischen Schriftsteller zugeschrieben. Der russische Begriff für Toleranz, «tolerantnost», sei erst ab den 1890er Jahren in der russischen Sprache nachzuweisen, erklärte Garstka. Zu diesem Zeitpunkt war Dostojewskij (1821-1881) bereits zehn Jahre tot.

Auch der Zitatforscher Gerald Krieghofer bezeichnet in einem Blogartikel das angebliche Dostojewskij-Zitat als falsch. Auf einer russischen Internetseite mit Werken des Autors lässt sich ebenfalls kein Hinweis finden.

Der Wortlaut tauchte bereits 2019 auf einer russischen Internetseite auf, wird dort aber nicht Dostojewskij zugeschrieben. Zum Zitat wird eine Szene aus dem russischen Spielfilm Hundeherz gezeigt, die den Schauspieler Evgeni Evstigneev in der Rolle des Professors Filipp Preobrashenski zeigt.

Der Film entstand 1988 und basiert auf er Novelle des russischen Schriftstellers Michail Bulgakow. Manchmal werde der Wortlaut auch Bulgakow zugeschrieben, so der Experte von der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft. Doch der Satz fällt weder in der Novelle noch in dessen Verfilmung, schreibt Garstka. Zum gleichen Ergebnis kamen Faktenchecker der Organisation Lead Stories.

Im sozialen Netzwerk Reddit ist ein Eintrag von 2019 zu finden, in dem eine Person nach einer Übersetzung des russischen Zitats ins Englische fragt. Auch hierbei wird der Wortlaut keiner bestimmten Person zugeschrieben.

Mindestens seit Mitte 2021 kursiert das Zitat auf Deutsch und wird dabei fälschlicherweise Dostojewskij zugeschrieben. Teilweise wird allerdings in Frage gestellt, ob der Wortlaut effektiv von Dostojewskij stammt.

Krieghofer schreibt, das Zitat sei in Gruppierungen beliebt, die LGTBQ-Rechte diskreditieren. Das liegt nahe, denn Toleranz steht für die Anerkennung von - auch sexueller - Vielfalt. Die Mitgliedsstaaten der Unesco erklärten 1995 in ihrer Definition der Toleranz: «Sie bedeutet für jeden einzelnen Freiheit der Wahl seiner Überzeugungen, aber gleichzeitig auch Anerkennung der gleiche Wahlfreiheit für alle anderen.»

(Stand: 27.07.2022)

Links

Unesco-Definition von Toleranz (archiviert)

Facebook-Post (archiviert)

HLS: Fjodor Michailowitsch Dostojewskij (archiviert)

Blog Falschzitate: Artikel zum angeblichen Dostojewskij-Zitat, 04.08.2021 (archiviert)

Russische Internetseite mit Werken von Dostojewskij (archiviert)

Russische Internetseite mit dem Zitat (archiviert)

Russischer Spielfilm «Hundeherz», 1988

Szene aus dem Film «Hundeherz» (archiviert)

Russian Film Hub: Film «Sobache serdtse» (deutsch: Hundeherz) (archiviert)

IMDb: Biografie Evgeni Evstigneev (archiviert)

Faktencheck Lead Stories (archiviert)

Reddit-Thread (archiviert)

Älteres Sharepic (archiviert)

Sharepic stellt Ursprung in Frage (archiviert)

Über dpa-Faktenchecks

Dieser Faktencheck wurde im Rahmen des Facebook/Meta-Programms für unabhängige Faktenprüfung erstellt. Ausführliche Informationen zu diesem Programm finden Sie hier.

Erläuterungen von Facebook/Meta zum Umgang mit Konten, die Falschinformationen verbreiten, finden Sie hier.

Wenn Sie inhaltliche Einwände oder Anmerkungen haben, schicken Sie diese bitte mit einem Link zu dem betroffenen Facebook-Post an factcheck-schweiz@dpa.com. Nutzen Sie hierfür bitte die entsprechenden Vorlagen. Hinweise zu Einsprüchen finden Sie hier.

Schon gewusst?

Wenn Sie Zweifel an einer Nachricht, einer Behauptung, einem Bild oder einem Video haben, können Sie den dpa-Faktencheck auch per WhatsApp kontaktieren. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.