Kein Beleg für angebliche Aussage von Göring im Nürnberger Prozess

08.05.2023, 15:17 (CEST)

Hermann Göring, einst engster Vertrauter Adolf Hitlers und lange Zeit die «Nummer zwei» des «Dritten Reiches», soll während des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher sein Rezept für die Versklavung von Menschen verraten haben. Das angebliche Zitat Görings wird zurzeit in unterschiedlichen Versionen in sozialen Netzwerken verbreitet. Auf die Frage, «wie die Deutschen dies alles hätten akzeptieren können», habe Göring demnach geantwortet: «Es war sehr einfach, und hat nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun. Vielmehr hat es etwas mit der menschlichen Natur zu tun. Sie können es in einem Nazi-Regime, sozialistischen, kommunistischen Regime, in einer Monarchie und auch in einer Demokratie tun. Das Einzige, was man tun muss, um Menschen zu versklaven, ist, sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Wenn ihr euch vorstellen könnt, wie ihr Menschen Angst macht, könnt ihr sie zu allem bringen, was ihr wollt.»

Bewertung

Göring hat während des Nürnberger Prozesses keine entsprechende Äusserung getan. Er hat sich in anderer Weise in einem Gespräch ausserhalb der Gerichtsverhandlung geäussert. Alles deutet darauf hin, dass aus dieser seit 1947 in der Fachliteratur vorliegenden Äusserung ein falsches Zitat produziert wurde, das jetzt in sozialen Netzwerken verbreitet wird.

Fakten

Über den Verlauf des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses in der Zeit vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946 liegen detaillierte Aufzeichnungen vor. Dazu gehören Wortprotokolle der insgesamt 218 Verhandlungstage. Hermann Göring, der Hitler seit 1922 kannte und später von ihm unter anderem zum Oberbefehlshaber der Luftwaffe und zum Reichsmarschall ernannt wurde, sass in Nürnberg zusammen mit 20 anderen hochrangigen Vertretern des NS-Regimes auf der Anklagebank. Aus den Wortprotokollen seiner Vernehmung geht hervor, dass das fragliche Zitat nicht von dort stammt.

Während der Haft in Nürnberg wurde Göring - ebenso wie andere Angeklagte - unter anderem von dem amerikanischen Gefängnispsychologen Gustave M. Gilbert interviewt. Gilbert berichtete darüber in seinem 1947 erschienenen Buch «Nuremberg Diary» («Nürnberger Tagebuch»). Darin beschreibt er eine Unterhaltung mit Göring vom 18. April 1946, also in der Osterpause des Nürnberger Prozesses nach den Aussagen Görings vor Gericht vom März 1946. Er (Gilbert) habe auf Görings Bemerkung reagiert, wonach einfache Bürger immer von den Regierenden manipuliert werden könnten, um Kriege zu unterstützen. Er habe dagegen eingewendet, einfache Bürger seien sicher nicht dankbar für Krieg und Zerstörung.

Darauf habe Göring geantwortet: «Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. Warum sollte auch irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste, was er dabei herausholen kann, ist, dass er mit heilen Knochen zurückkommt? Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Russland, noch in England, noch in Amerika, und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar. Aber schliesslich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt.»

Gilbert schreibt, er habe eingeworfen, dass in einer Demokratie die Bürger immerhin über die Regierenden entscheiden könnten und dass in Amerika nur der Kongress einen Krieg erklären könne. Daraufhin habe Göring geantwortet: «Das ist alles schön und gut. Aber ob mit oder ohne Stimmrecht, das Volk kann immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.»

Dieses authentische Zitat bezieht sich also auf die Bereitschaft eines Volkes zur Kriegsführung. Göring empfiehlt, das Volk von einem Angriff zu überzeugen und zugleich den Pazifisten einen Mangel an Patriotismus vorzuwerfen.

Bei dem verfälschten Zitat, das in sozialen Medien verbreitet wird, geht es hingegen nicht um Krieg, sondern darum, «Menschen zu versklaven». Von einem Mangel an Patriotismus und von einer Gefahr für das Land ist keine Rede mehr - sondern nur noch davon, dass man den Menschen Angst machen müsse.

Ein derartiges Göring-Zitat ist keinem der am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München befragten NS-Experten bekannt. Es sei «nicht nachvollziehbar, wo Göring diese Aussage getroffen haben soll», sagte eine Sprecherin des IfZ der Deutschen Presse-Agentur. Möglicherweise sei das Zitat aus Gilberts «Nürnberger Tagebuch» «sinnentstellend weiterverwendet» worden.

Sollte dies der Fall sein, so sei das Zitat nicht nur «völlig falsch wiedergegeben» worden. Es lasse sich auch nicht mit dem üblichen Duktus oder Weltbild Görings in Verbindung bringen. Falls mit der Aussage gemeint sei, dass die Nationalsozialisten durch Angst das «deutsche Volk» zu «Sklaven» machen wollten, so passe dies überhaupt nicht zu der üblichen Herrenrassen-Ideologie, die ja die vermeintliche «Höherwertigkeit» der Deutschen beschreiben sollte. Die Experten des IfZ kommen zu dem Schluss: «Es ist deshalb kaum anzunehmen, dass das Zitat tatsächlich von Göring stammt.»

Links

Facebook-Post (archiviert)

Memorium Nürnberger Prozesse

Biografische Angaben des DHM zu Göring

Verhandlungsprotokolle und Materialien des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses

Suche des Zitats in Protokollen des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses (archiviert)

Gespräch Görings mit Gilbert

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