Behauptung ohne Beweis
Wissenschaftler kritisieren Fehler in Windrad-Studie
17.3.2025, 18:51 (CET)
Nutzer sozialer Medien behaupten, Wind und Wetter lösten große Mengen giftiger Mikropartikel von Rotorblättern ab. Diese seien für Menschen und Tiere eine Gefahr. Ein Facebook-Post aus Luxemburg etwa verlinkt zu der österreichischen Webseite "tkp“, die einen Artikel mit dem Titel «Giftige Rotorblätter von Windrädern als Zeitbomben» enthält. Darin heißt es, die «Ablösung von Mikroplastik von den Turbinenblättern» sei ein großes Problem für die Hersteller der Windkraftanlagen. Wissenschaftliche Untersuchungen hätten gezeigt, dass jährlich pro Windrad bis zu 62,5 Kilo Epoxid-Mikropartikel abgelöst werden könnten. Diese «giftigen Kunststoffrückstände» würden «weit und breit» in der Umwelt verteilt.
Bewertung
Die Behauptungen stützen sich vor allem auf eine umstrittene Studie, deren Ergebnis von seriösen Wissenschaftlern stark angezweifelt wird. Auch die Giftigkeit des in Rotorblättern enthaltenen Bisphenol A (BPA) ist umstritten.
Fakten
Zutreffend ist, dass die Erosion vor allem an der Vorderkante des Rotorblatts ein zentrales Problem bei der Nutzung von Windenergie ist: diese Vorderkante leidet unter Regen, Hagel, Schnee und anderen Wetterunbilden. Das gilt vor allem für die Blattspitze des Rotorblatts, die laut Bundesverband Windenergie eine Geschwindigkeit von bis zu 360 km/h erreichen kann.
Bei solchen Geschwindigkeiten können Regentropfen auf hartem Untergrund einigen Schaden anrichten. Bei Windanlagen wird von Abrieb oder Erosion gesprochen. Dies bedeutet, dass einerseits kleine Partikel in die Umwelt geraten und andererseits die Windanlage mit zunehmender Erosion wegen der rauer werdenden Oberfläche des Rotorblatts weniger Leistung erbringt.
Auch der fragliche Artikel macht deutlich, dass es vor allem um zwei zentrale Fragen geht. Erstens: Wie groß ist die Erosion, welche Partikel-Mengen werden freigesetzt? Und zweitens: Sind diese Partikel giftig?
Studie nicht unabhängig geprüft
Bei der Behauptung, es würden jährlich «bis zu 62,5 kg Epoxid-Mikropartikel» von einer Windkraftanlage freigesetzt, bezieht sich die bei Facebook verlinkte Webseite auf eine Studie des norwegischen Wissenschaftlers Asbjørn Solberg vom Juli 2021. Diese Studie ist nicht unabhängig begutachtet (peer reviewed) worden. In der Studie errechnet Solberg freigesetzte Abriebmengen.
Bei seinen Berechnungen bezieht er sich wiederum auf eine Untersuchung von Wissenschaftlern der schottischen Universität Strathclyde. Dort hatte man zunächst die Wetterdaten von Irland und Großbritannien gesammelt. Anschließend wurde ein kleines Stück eines sogenannten G10 Epoxy Glas im Labor in einer Art Zentrifuge mit Wasser bespritzt, um verschiedene Regenmengen zu simulieren.
Die Wissenschaftler stellten mit einer sehr genauen Waage fest, wie viel Masse beim Beschuss mit Regen verloren gegangen war. Dann berechneten sie für Großbritannien und Irland die Standorte, an denen die Erosion von Windkraftrotoren besonders groß oder gering sein solle. Solberg wiederum rechnete anhand der Studie aus Strathclyde aus, wie stark der Abrieb bei großen Windkraftanlagen sei.
Hochrechnung «einfach falsch»
Andere Wissenschaftler kritisierten dieses Vorgehen heftig. Eine Studie der Technischen Universität von Roskilde (Dänemark) erhebt eine ganze Reihe von Vorwürfen gegen Solbergs Zahlen. So sei das von der schottischen Universität verwendete Glasmaterial G10 nicht vergleichbar mit dem tatsächlich Material der Rotorblätter.
Außerdem könnten Ergebnisse eines kleinen Proben-Stücks keinesfalls auf sehr viel größere Materialien einfach hochgerechnet werden: Dies sei «einfach falsch», schreiben die dänischen Wissenschaftler. Zudem gebe es gravierende Rechenfehler. Die Dänen gehen nach eigenen Berechnungen von einem jährlichen Erosionsmaterial zwischen 30 und 540 Gramm pro Rotorblatt aus.
Eine Gruppe niederländischer Wissenschaftler der Forschungsgruppe TNO berechnete den Abrieb auf jährlich 240 Gramm pro Windkraftanlage. Diese Wissenschaftler beklagten grundsätzlich den Mangel an verlässlichen Daten über das tatsächliche Ausmaß der Erosion. Solbergs behauptete 62 Kilo seien weit höher als alle anderen Zahlen. Auch die Niederländer kritisieren, Solberg habe «fälschlicherweise» die Versuchsergebnisse von millimetergroßen Proben auf ein gesamtes Rotorblatt hochgerechnet. Dies habe zu einer «unverhältnismäßigen Überschätzung» seiner Ergebnisse geführt.
Bisphenol A unterschiedlich bewertet
Auch die Frage, wie giftig der Abrieb von Rotorblättern für die Umwelt sein kann, ist nicht einfach zu beantworten. Die Rotorblätter werden unter Verwendung von Epoxidharz hergestellt, das Bisphenol A (BPA) enthält. BPA ist nach Angaben der EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) wegen möglicher Auswirkungen auf das Hormonsystem ein gefährlicher Stoff und deswegen seit Dezember 2024 als «Lebensmittelkontaktmaterial» verboten.
Bisher wurde BPA unter anderem bei Innenbeschichtungen von Getränke- und Konservendosen, in Thermopapieren und im Modellbau eingesetzt. Beim Bau von Rotorblättern wird es vor allem zum Verkleben unterschiedlicher Komponenten verwendet, meist nicht auf der Außenhaut der Blätter.
«Die Frage, ob und inwieweit Bisphenol A die menschliche Gesundheit beeinträchtigt, wird seit Jahren wissenschaftlich diskutiert und ist bislang nicht abschließend geklärt», schreibt das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) auf seiner Webseite. Tatsächlich wird die EFSA-Einschätzung der Gefährlichkeit weder vom BfR noch von der EU-Arzneimittelagentur EMA geteilt.
Flüssiges und ausgehärtetes Epoxidharz
Sowohl EMA als auch BfR haben ihre abweichenden Einschätzungen zur Gefährlichkeit von BPA in ausführlichen öffentlichen Dokumenten dargelegt. Dabei geht es unter anderem um die Frage, inwieweit Ergebnisse aus Versuchen mit Mäusen auf Menschen übertragbar sind. Unter anderem hält die BfR den von der EFSA abgesenkten Wert für die täglich tolerierbare Aufnahmemenge von BPA in Höhe von 0,2 Nanogramm pro Kilogramm Körpergewicht für «nicht sachgerecht».
«Dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedliche Ansichten über Ansätze und Methoden haben, ist ein normaler und integraler Teil des wissenschaftlichen Prozesses», schreibt die BfR zu dem Dissens.
Die Hersteller von Epoxidharzen verweisen darauf, dass die diese Harze nur im flüssigen Zustand gefährlich seien, nicht jedoch nach der Aushärtung. Auch ein Sicherheits-Leitfaden der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft – eine Branche, in der sehr viel Epoxidharz verwendet wird - betont dies. Dass Vorsicht im Umgang im flüssigem Epoxidharz angebracht ist, ist also unbestreitbar. Dass tonnenweise hochgiftige Stoffe von Windrädern übers Land verteilt werden, ist aber alles andere als bewiesen.
(Stand 17.3.25)
Links
Bundesverband Windenergie, archiviert
Studie Strathclyde, archiviert
Studie TU Roskilde, archiviert
Forschungsgruppe TNO, archiviert
EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit, archiviert
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