Forderung verkehrt verstanden

Video verbreitet viele falsche Behauptungen über die Nato

3.1.2025, 18:24 (CET)

Angeblich steht ein Krieg bevor – und Schuld daran ist die Nato. Diese Behauptung Russlands wird immer wieder in sozialen Netzwerken verbreitet, mit anderen frei erfundenen Dingen ausgeschmückt.

In sozialen Medien wird behauptet, die Nato plane, den «Bündnisfall» gemäß dem Nato-Vertrag zu erklären. Dies werde Krieg bedeuten. Ein Facebook-Post aus Luxemburg mit dem Kommentar «Article 4?» und der Überschrift «Eskalation. Es beginnt» verlinkt zu einem Video. Dieses wird mit dem Titel «Schweden will Artikel 4 der NAT0 aktivieren – Grund brisant!» präsentiert.

Bewertung

Diese Behauptung ist falsch. Ebenso falsch wie andere in diesem Zusammenhang verbreitete Behauptungen.

Fakten

Der Autor, der sich als Auswanderer und Immobilien-Investor bezeichnet, stellt dort eine ganze Reihe falscher Behauptungen auf. «Wir alle könnten in den Krieg reingezogen werden», behauptet er unter Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Der angebliche Grund: «Schweden will jetzt nämlich den Artikel 4 der Nato aktivieren. Und der Grund dafür ist äußerst brisant.»

Oppositionspolitiker forderte Konsultationen

Wie kommt er darauf? Der verteidigungspolitische Sprecher der oppositionellen schwedischen Sozialdemokraten, Peter Hultqvist, hat gefordert, dass Schweden nach mehreren Russland zugeschriebenen Sabotage-Angriffen auf Unterwasser-Kabel in der Ostsee vom Artikel 4 des Nato-Vertrages Gebrauch macht. Dieser Artikel 4 lautet: «Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind.»

Hultqvist, der von 2014 bis 2022 Verteidigungsminister Schwedens war, begründete seine Forderung mit den sogenannten hybriden Angriffen auf wichtige westliche Infrastruktur in der Ostsee. Die Webseite Sweden Herald zitierte ihn so: «Allein die Tatsache, dass wir mit der Diskussion über Artikel 4 beginnen, signalisiert, dass wir diese Situation sehr ernst nehmen. Diejenigen, die diese Art von unterminierenden antagonistischen Aktivitäten betreiben, sollten verstehen, dass wir verstehen, was passiert, und bereit sind zu handeln.»

Da über die Absichten eines Landes üblicherweise die Regierung und nicht die größte Oppositionspartei entscheidet, lohnt ein Blick auf die Stellungnahme der schwedischen Außenministerin Maria Malmer Stenergard. Diese sagte dem schwedischen Fernsehen SVT Nyheter, dass man die Entwicklungen in der Ostsee aufmerksam verfolge und «nichts ausschließt». Zugleich mahnte sie zur Besonnenheit, um die Täterschaft mehrerer Sabotageakte in der Ostsee eindeutig feststellen zu können. Festzuhalten bleibt also (Stand 3.2.25): Nicht «Schweden» fordert die Anwendung des Artikels 4 des NATO-Vertrages, sondern ein Politiker der oppositionellen Sozialdemokraten.

Schwedendemokraten sind rechtsnationale Partei

Der Autor des Videos über die angeblich drohenden Gefahren durch die geforderte Anwendung von Artikel 4 des NATO-Vertrages hat allerdings von der Politik in Schweden eine eher bizarre Vorstellung. Denn Schweden wird seit Oktober 2022 von einer konservativen Minderheitsregierung unter der Leitung von Ministerpräsident Ulf Kristersson geführt. Diese wird, wie der Autor des Videos unter Zuhilfenahme von Wikipedia korrekt vorliest (02:35), von der Sammlungspartei, Christdemokraten und Liberalen gebildet und von den sogenannten Schwedendemokraten unterstützt.

Offensichtlich hält der Autor des Videos jedoch diese Schwedendemokraten für die schwedischen Sozialdemokraten. Denn er fasst die Lage wie folgt zusammen: «Also in Schweden gibt es aktuell eine Minderheitsregierung, die nur deswegen funktioniert, weil sie von den schwedischen Sozialdemokraten geduldet wird. Also ohne die Sozialdemokraten geht in Schweden rein gar nichts.» Das ist schlichter Unsinn, weil die nationalistischen und rechtspopulistischen Schwedendemokraten nicht das Geringste mit den Sozialdemokraten zu tun haben. 

Die Verwechslung der beiden Parteien führt im Video zu der absurden Schlussfolgerung: «Man könnte also sagen, dass dieser ehemalige schwedische Verteidigungsminister zwar offiziell nichts zu sagen hat, aber die schwedische Regierung muss trotzdem auf ihn hören, weil sie ja auf die Duldung der Sozialdemokraten angewiesen ist, weil sie ja eine Minderheitsregierung ist.» Und ebenso kurios ist die Behauptung: «Offenbar verhandelt die schwedische Opposition gerade mit der schwedischen Regierung über das Ausrufen von Artikel 4.»

Beistandsklausel der Nato steht in Artikel 5

In der Sache geht es um Art. 4 und Art. 5 des im April 1949 - also kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - unterzeichneten Nato-Vertrages. Artikel 4 besagt: «Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.» 

Artikel 5 wird auch als Beistandsklausel bezeichnet und gilt als der wichtigste Teil des Vertrages. Er beginnt mit den Worten: «Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird.» Im Fall eines bewaffneten Angriffes wird dem angegriffenen Bündnismitglied Beistand «einschließlich der Anwendung von Waffengewalt» garantiert, «um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten».

Der Autor des Videos behauptet (04:05): «Es könnte jetzt also sehr gut sein, dass wir in den nächsten Tagen das Ausrufen von Artikel 4 sehen, was ja nichts anderes ist als die Vorstufe von Artikel 5, also dem richtigen Ausrufen des Verteidigungsfalles und damit dem Krieg.» Aber auch die Behauptung, die Ausrufung von Artikel 4 sei eine Vorstufe von Artikel 5 und dieser bedeute den Verteidigungsfall und damit den Krieg, ist falsch.

Keine Sitzung nach Artikel 4 führte zu Krieg

Tatsächlich nämlich hat die Nato seit ihrer Gründung 1949 bereits sieben Mal gemäß Artikel 4 des Vertrages getagt. In keinem dieser Fälle, die auf einer Webseite der Nato einzeln aufgelistet sind, wurde anschließend der Verteidigungsfall gemäß Artikel 5 ausgerufen. Und in keinem dieser Fälle folgte gar Krieg auf dieses Zusammentreten gemäß Artikel 4. Denn dieser Artikel schreibt lediglich ein Recht auf Beratungen des Bündnisses fest. Die alarmierende Behauptung in dem Video hat also mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Einfacher gesagt: Artikel 4 ist keineswegs die Vorstufe von Artikel 5.

Der «Bündnisfall» gemäß Artikel 5 ist von der Nato bisher nur ein einziges Mal erklärt worden: Und zwar als Akt der Solidarität gegenüber den USA unmittelbar nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Dies bedeutete, dass die Nato Operationen zur Terrorismusbekämpfung im Mittelmeerraum einleitete. Zudem beteiligte sich die Nato an der «International Security Assistance Force» (ISAF) in Afghanistan, deren Leitung sie 2003 übernahm. 

Der Autor des Videos malt ungeachtet der Faktenlage ein beängstigendes Bild (07:25): «Also wenn wir jetzt richtig großes Pech haben, dann werden in den nächsten Tagen die Schweden Artikel 4 ausrufen und höchstwahrscheinlich auch direkt danach Artikel 5. Dann werden wir die größte Katastrophe in der Geschichte von Europa und der ganzen Welt erleben. Dann werden nämlich schnell massenhaft Raketen gestartet und alle militärischen Ziele im Westen, aber auch in Übersee, dem Erdboden gleichgemacht. Und wer dann zufällig in der Nähe von einer solchen militärischen Einrichtung wohnt, der hat dann Pech gehabt.» 

Nato kann Bündnisfall nur gemeinsam beschließen

Diese Behauptung ist nicht nur deswegen falsch, weil Schweden überhaupt nicht in der Lage wäre, Artikel 5 auszurufen. Ein solcher Bündnisfall könnte nur einstimmig von allen Mitgliedern des Nato-Rates ausgerufen werden, nicht von einem einzelnen Nato-Staat.

Aber selbst falls Artikel 5 ausgerufen würde, würde dies – wie in der Vergangenheit bewiesen – nicht bedeuten, dass ein Weltkrieg ausbräche. Zudem verschweigt der Autor des Videos, dass die Nato bereits im Februar 2022 nach der russischen Invasion in der Ukraine zu Konsultationen gemäß Artikel 4 zusammengetreten war. Damals hatten Bulgarien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und die Slowakei diese Beratungen beantragt. 

Der Autor des Videos, der eigenen Angaben zufolge mit Immobilieninvestitionen im Ausland Geld verdient, rät seinen Zuschauern zur Vorsorge: «Wer jetzt noch keinen Plan B hat, der sollte sich jetzt sofort einen Plan B überlegen. Wenn es erst einmal richtig losgegangen ist, dann ist es zu spät, um sich in Sicherheit zu bringen», mahnt er. «Ihr habt es ja alle in der Ukraine gesehen: Direkt am Tag des Kriegsbeginns wurden alle Grenzen dicht gemacht, niemand kam mehr raus. Alle wurden eingezogen», behauptet er.

6,2 Millionen Ukrainer flüchteten ins Ausland

Auch dies stimmt so nicht. Nach Beginn der russischen Invasion vom 24. Februar 2022 bildeten sich an den Grenzen lange Schlangen ausreisender Flüchtlingen. Nach Angaben der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen verließen rund 6,2 Millionen Menschen das Land. Zutreffend ist lediglich, dass den meisten Männern im wehrfähigen Alter die Ausreise verboten wurde.

(Stand: 3.1.2025)

Links

Facebook-Post, archiviert 

Video, archiviert

NATO-Vertrag, archiviert

Sweden Herald zu Hultqvist-Forderung, archiviert 

NATO zu Artikel 4 des Vertrages, archiviert

SVT Nyheter zu Stenergard, archiviert 

Schwedische Regierung, archiviert

KAS zu Schweden, archiviert

NATO zu Artikel 5, archiviert

UNHCR zu Ukraine-Flüchtlingen, archiviert

Über dpa-Faktenchecks

Dieser Faktencheck wurde im Rahmen des Facebook/Meta-Programms für unabhängige Faktenprüfung erstellt. Ausführliche Informationen zu diesem Programm finden Sie hier.

Erläuterungen von Facebook/Meta zum Umgang mit Konten, die Falschinformationen verbreiten, finden Sie hier.

Wenn Sie inhaltliche Einwände oder Anmerkungen haben, schicken Sie diese bitte mit einem Link zu dem betroffenen Facebook-Post an factcheck-luxembourg@dpa.com. Nutzen Sie hierfür bitte die entsprechenden Vorlagen. Hinweise zu Einsprüchen finden Sie hier.

Schon gewusst?

Wenn Sie Zweifel an einer Nachricht, einer Behauptung, einem Bild oder einem Video haben, können Sie den dpa-Faktencheck auch per WhatsApp kontaktieren. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.