Kein Betrug

Gesetz macht mehr als 100 Prozent Wahlbeteiligung möglich

4.9.2024, 15:51 (CEST)

Eine Wahlbeteiligung von mehr als 100 Prozent kann auf den ersten Blick kurios wirken. Ein zweiter Blick in die geltenden Gesetze zeigt, dass dennoch alles mit rechten Dingen zugeht.

In einem sächsischen Wahlkreis wurde bei der Landtagswahl vom 1. September 2024 offiziell eine Wahlbeteiligung von 103,5 Prozent festgestellt. In sozialen Netzwerken wurde sofort von einem klaren Beweis für Wahlbetrug gesprochen. Denn mehr als 100 Prozent Wahlbeteiligung seien auch theoretisch gar nicht möglich. «Noch deutlicher kann man ja gar nicht zeigen, dass an dieser Stelle betrogen wurde», heißt es in einem Video. Ist das wirklich so?

Bewertung

Nein, die Behauptung ist falsch. Die Wahlbeteiligung kann wegen der Auszählung von Briefwahl-Stimmen aus anderen Stimmbezirken durchaus über 100 Prozent liegen.

Fakten

In einem luxemburgischen Facebook-Post wird ein Video mit der Überschrift «Betrug? 103,5 Prozent Wahlbeteiligung in Sachsen!» geteilt. Darin behauptet der Sprecher, in Sachsen habe es einen «richtig krassen Vorfall» gegeben. Dort sei in der Stadt Strehla eine Wahlbeteiligung von 103,5 Prozent verzeichnet worden (01:45). «Erstens ist das vollkommen unrealistisch und zweitens ist das mathematisch überhaupt nicht möglich. Und das lässt für mich nur den einzigen Schluss zu, dass hier entweder massiv durch die Briefwahl betrogen wurde oder ein Totalversagen der Behörden vorliegt.»

Voller Empörung («Alter Schwede, wie krass ist das denn?») sagt der Sprecher, dies bedeute, dass «ja mehr Menschen gewählt haben als eigentlich Menschen wählen dürfen»: «Und das ist Betrug.» Der Sprecher führt dann seine Zuschauer auf die offizielle Webseite des statistischen Landesamtes von Sachsen, wo für die Stadt Strehla in der Tat ein Wahlergebnis mit einer Beteiligung von 103,5 Prozent ausgewiesen wird. «Wenn ich so etwas sehe, dann verliere ich wirklich den Glauben an unsere Demokratie und an unsere Wahlen.»

Stadt zählte Briefwahlstimmen für Nachbargemeinden aus

Tatsächlich sind die Zahlen korrekt. Schon ein aufmerksamer Blick auf das im Video gezeigte Wahlergebnis von Strehla hilft weiter: Dort ist eine Anmerkung zu sehen: «Gemeinde führte Briefwahl ebenfalls für Hirschstein und Stauchitz durch.» Dies bedeutet, dass in Strehla auch Briefwahlstimmen aus zwei benachbarten Gemeinden ausgezählt wurden. Denn nicht jeder kleine Ort hat eine eigene Briefwahlstelle.

Dies ist auch nicht verwunderlich. Das Bundeswahlgesetz sieht im dritten Absatz von Paragraph 8 ausdrücklich vor: «Zur Feststellung des Briefwahlergebnisses können Wahlvorsteher und Wahlvorstände statt für jeden Wahlkreis für einzelne oder mehrere Gemeinden oder für einzelne Kreise innerhalb des Wahlkreises eingesetzt werden; die Anordnung trifft die Landesregierung oder die von ihr bestimmte Stelle.»

Bestimmung im Wahlgesetz auch anderswo genutzt

Strehla war nicht die einzige Stadt in Sachsen, die auf eine rechnerische Wahlbeteiligung von mehr als 100 Prozent kam. Betroffen war zum Beispiel auch die Gemeinde Ralbitz-Rosenthal im Wahlkreis Bautzen 2. Sie zählte die Briefwahlergebnisse für die Orte Crostwitz und Räckelwitz mit - und kam so auf 1381 Stimmen bei nur 1320 Wahlberechtigten. Rein rechnerisch ergibt das eine Wahlbeteiligung von 104,6 Prozent.

Ein weiteres Beispiel war Schönfeld im Wahlkreis Meißen 2, das rechnerisch sogar eine Wahlbeteiligung von 131,5 Prozent auswies - bei nur 1428 eigenen Wahlberechtigten. Schönfeld zählte aber die Briefwahlstimmen für die Orte Lampertswalde und Thiendorf mit aus. Auch das ist in der amtlichen Statistik vermerkt. Die über 100 Prozent hinausgehende Wahlbeteiligung ist also erklärbar und vollkommen legal.

Selbsternannte Wahlbeobachter können parteiisch sein

In dem über Facebook verteilten Video wird zugleich darauf hingewiesen, dass «das Bürgernetzwerk einprozent.de» sich darüber beschwert habe, dass seine «Wahlbeobachter» in einigen thüringischen Wahllokalen mit Flatterbändern oder Stuhlblockaden daran gehindert worden seien, die ordnungsgemäße Auszählung der Stimmen zu beobachten. Der Sprecher erläutert nicht, dass das sogenannte Bürgernetzwerk sich als patriotische «Widerstandsplattform für deutsche Interessen» versteht und eng mit der AfD zusammenarbeitet.

Nach der Wahl bedankte es sich auf seiner Webseite ausdrücklich beim thüringischen AfD-Chef Björn Höcke für die gute Zusammenarbeit. In dem Video behauptet der Sprecher, dadurch, dass die «Wahlbeobachter» nicht unmittelbar an den Auszählungstisch herantreten durften, werde «der Wahlgrundsatz der Öffentlichkeit massiv und geplant verletzt».

Wahlvorstand entscheidet laut Gesetz über Ablauf

Allerdings schreibt das Thüringer Wahlgesetz für den Landtag in Paragraph 32 vor: «Die Wahlhandlung ist öffentlich. Der Wahlvorstand kann Personen, die die Ordnung stören, aus dem Wahlraum verweisen.»

Zugleich sieht Paragraph 40 vor: «Der Wahlvorstand entscheidet über die Gültigkeit der abgegebenen Stimmen und über alle Fragen, die sich bei der Wahlhandlung und bei der Ermittlung des Wahlergebnisses stellen. Der Wahlkreisausschuss hat das Recht der Nachprüfung.»

Die Gesetzeslage überlässt also dem Wahlvorstand durchaus Spielraum bei der Entscheidung darüber, was die Ordnung im Wahllokal stören könnte. Über eventuelle Beschwerden bei den zuständigen Stellen war jedoch auch drei Tage nach dem Wahlsonntag nichts bekannt.

(Stand: 04.09.2024)

Links

Facebook-Post, archiviert

Video, archiviert

Wahlergebnis Strehla, archiviert

Bundeswahlgesetz zur Auszählung der Briefwahl , archiviert

Wahlergebnis Ralbitz-Rosenthal, archiviert

Wahlergebnis Schönfeld, archiviert

Webseite einprozent.de, archiviert

Wahlgesetz Thüringen Para 32, archiviert

Wahlgesetz Thüringen Para 40, archiviert

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