Russischer Marschflugkörper

Krankenhaus in Kiew wurde nicht von der Ukraine bombardiert

11.7.2024, 14:29 (CEST), letztes Update: 11.7.2024, 14:30 (CEST)

Nach dem Angriff auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew bestreitet Russland die Täterschaft: Das Krankenhaus sei von einer ukrainischen Rakete getroffen worden, heißt es. Doch alles spricht dagegen.

In sozialen Medien wird behauptet, es sei bewiesen, dass die Ukraine selber das Krankenhaus bombardiert habe. In einem in Luxemburg verbreiteten Facebook-Post wird ein Tiktok-Video geteilt, in dem lediglich dieser Text in holprigem Deutsch enthalten ist: «Eilmeldung. Es ist bewiesen, dass die Ukraine selber das Krankenhaus bombardiert hat, um Russland wiedermals ins falsche Licht zu rücken. Und das nur um weitere Millionen "hilfsgelder" zu kassieren». In dem Facebook-Post wird dazu in luxemburgischer Sprache kommentiert: «Ja, ja nicht einfach. Und jetzt?»

Bewertung

Diese Behauptung ist falsch. Vielmehr gibt es zahlreiche Beweise dafür, dass es sich um eine russische Rakete handelte.

Fakten

Der Post bezieht sich auf mehrere Raketeneinschläge am 8. Juli 2024 morgens in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Dabei wurde auch ein Nebengebäude am Ochmatdyt-Kinderkrankenhaus schwer getroffen. Zwei Erwachsene wurden getötet, viele Kinder verletzt. Die dortigen Schäden wurden von zahlreichen Fotografen dokumentiert.

Am 9. Juli behauptete die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, laut einem Bericht der Nachrichtenagentur TASS, es sei bestätigt worden, dass «eine Rakete, die vom westlichen NASAM-Raketensystem abgefeuert wurde», das Krankenhaus getroffen habe.

Videos von Angriff liefern Anhaltspunkte

Bei der Beantwortung der Frage, ob diese Behauptung stimmt, hilft die Tatsache, dass es mehrere Videoaufnahmen des Angriffs gibt, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln gemacht wurden - und daher kaum manipuliert sein können. Auf diesen Videos ist die fragliche Rakete kurz vor ihrem Einschlag in das Kinderkrankenhaus zu sehen.

Nicht nur, aber vor allem wegen dieser Videoaufnahmen sind diverse Raketen-Experten davon überzeugt, dass es sich nicht um eine westliche Nasams-Luftabwehrrakete handelte, die das Krankenhaus zerstörte. Dieses in Norwegen und in den USA entwickelte Luftabwehrsystem beruht auf der US-Rakete AIM-120 AMRAAM und wurde in größerer, aber nicht genau bekannter Zahl an die Ukraine geliefert. Die Rakete hat einen verhältnismäßig kleinen Sprengkopf von 20 Kilo.

Markus Schiller, ein deutscher Experte für Raketentechnik, sagte der Deutscchen Presse-Agentur (dpa), diese Rakete sei so konstruiert, dass sie neben dem Ziel explodiere. Die dabei entstehenden zahlreichen Splitter führten zur Zerstörung des Ziels.

Auf den Fotos von dem Kinderkrankenhaus fehlten jene kleinen Krater, die entstünden, wenn die AIM-120 AMRAAM explodiere. Zudem könne man mit 20 Kilo Sprengstoff keine so große Druckwelle erzeugen, wie das im Krankenhaus der Fall gewesen sein muss. «Das Schadensbild zeigt eindeutig den Einschlag von etwas Größerem.»

Zu großer Schaden für Luftabwehrrakete

Was dieses «Größere» gewesen ist, ist für die Experten nach der Auswertung der Videoaufnahmen klar: Es handelte sich um einen russischen Marschflugkörper des Typs Kh-101 (auch Ch-101). In einem ausführlichen Bericht hat das unabhängige Rechercheteam Bellingcat die Identifizierung des russischen Marschflugkörpers detailliert erläutert. Die Kh-101 ist auch für den Laien einfach von der AIM-120 AMRAAM zu unterscheiden: Der russische Marschflugkörper hat am Heck ein Triebwerk, das der amerikanischen Rakete fehlt. Zudem ist die Kh-101 an der Front abgerundet, während die amerikanische Rakete sehr spitz ist.

Sowohl der Raketen-Techniker Fabian Hoffmann als auch der Militärforscher Timothy Wright von der Denkfabrik International Institute for Strategic Studies (IISS) sind überzeugt, dass das Schadensbild in Kiew nicht zu der Behauptung passt, dort sei eine westliche Flugabwehrrakete eingeschlagen. «Der Sprengstoff im Gefechtskopf eines AIM-120 wäre niemals in der Lage, ein solches Ausmaß an Zerstörung zu verursachen», sagte Hoffmann der dpa. Das Schadensprofil passe zu einem Kh-101-Sprengkopf des russischen Marschflugkörpers, der insgesamt etwa 400 bis 450 Kilogramm wiegt. Wright sagte, es sei «fast sicher», dass es sich bei der Rakete um eine russische Kh-101 gehandelt habe.

Hoffmann hat die wesentlichen Unterschiede zwischen dem russischen Marschflugkörper und der amerikanischen Rakete in einem Post im Kurznachrichtendienst X ausführlich beschrieben. «Jeder, der behauptet, dies sei keine Kh-101, leugnet die Realität», fasst er zusammen.

Auch die Leiterin der UN-Beobachtungsmission für Menschenrechte in der Ukraine, Danielle Bell, sagte, die Analyse der Videobilder und die Ergebnisse der Untersuchung an Ort und Stelle bedeuteten «eine große Wahrscheinlichkeit», dass das Krankenhaus direkt getroffen und nicht von einer fehlgeleiteten Abwehrrakete zerstört worden sei.

Trümmerteile liefern weitere Hinweise

Bei der Untersuchung von Trümmerteilen nach dem Angriff auf das Kinderkrankenhaus kamen die ukrainischen Ermittler zum Ergebnis, dass es sich um einen russischen Marschflugkörper gehandelt habe. «Spezifische Konstruktionsbesonderheiten der gefundenen Trümmerteile und entsprechende typische Markierungen zeugen vom Einsatz eines strategischen Marschflugkörpers des Typs Ch-101», heißt es in einer Mitteilung des ukrainischen Justizministeriums. Die Autoren von Bellingcat fanden bei einer detaillierten Auswertung der Fotos der Trümmerteile mit entsprechenden Nummern und Markierungen eines Kh-101-Marschflugkörpers keinerlei Hinweise darauf, dass hier Beweise manipuliert wurden. Dieser Marschflugkörper werde auch ausschließlich von den russischen Streitkräften genutzt.

Die Behauptung, es sei «bewiesen, dass die Ukraine selber das Krankenhaus bombardiert hat», ist daher eindeutig falsch. Das Gegenteil ist der Fall.

(Stand 11.7.2024)

Links

Facebook-Post (archiviert)

Tiktok-Video (archiviert)

Schadensfotos (archiviert)

TASS zu Sacharowa (archiviert)

Video 1 (archiviert)

Video 2 (archiviert)

AIM-120 AMRAAM (archiviert)

Markus Schiller (archiviert)

Bellingcat-Recherche (archiviert)

Fabian Hoffmann (archiviert)

Timothy Wright (archiviert)

Marschflugkörper Kh-101 (archiviert)

Post im Kurznachrichtendienst X (archiviert )

UN-Mmission in der Ukraine (archiviert)

Mitteilung ukrainisches Justizministerium (archiviert)

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