Studie liefert keinen Beweis

Notstand in Japan wegen Krebserkrankungen ist pure Erfindung

26.04.2024, 16:34 (CEST)

Nebenwirkungen von mRNA-Impfstoffen werden auch nach Abklingen der Covid-19-Pandemie weiter diskutiert. Manchmal entspringen die Argumente mehr der Fantasie als realen Fakten.

Eine Studie aus Japan hat angeblich nachgewiesen, dass dort die Zahl der Krebserkrankungen wegen der mRNA-Impfung während der Covid-19-Pandemie «explodiert» sei. Deswegen habe Japan nun den Notstand ausgerufen.

Bewertung

Die Behauptung ist falsch. In Japan ist kein Notstand ausgerufen worden. Und es ist auch nicht erwiesen, dass Krebs von mRNA-Impfstoffen ausgelöst oder gefördert würde.

Fakten

Ein in Luxemburg verbreiteter Facebook-Post behauptet, Japan habe «wegen einer Explosion von mRNA-Krebsfällen den nationalen Notstand ausgerufen». Gemäß einer «offiziellen japanischen Studie» habe es seit der Einführung der mRNA-Impfstoffe einen statistisch bedeutsamen Anstieg bei «aggressiven Krebserkrankungen» gegeben.

Der Post verlinkt auf einen Artikel der Webseite amg-news.com. Darin heißt es ebenfalls, Japan habe «einen nationalen Notstand nach der Explosion von Krebsfällen im ganzen Land, die von mRNA-Impfstoffen ausgelöst wurden, ausgerufen».

Diese Behauptung ist falsch. Die Regierung hat keinen nationalen Notstand ausgerufen. Es gibt keine derartige Erklärung, es gibt keine entsprechende Mitteilung auf irgendeiner regierungsamtlichen Webseite und es gibt auch keine Berichterstattung über den behaupteten Notstand in den japanischen Medien. Dieser «Notstand» ist also eine pure Erfindung.

Schon am 7. April 2020 hatte die japanische Regierung am 7. April 2020 hingegen wegen der Covid-19-Pandemie für Tokio und eine Reihe von anderen Präfekturen (Regionen) den Notstand ausgerufen. Er galt später für das gesamte Land und wurde Ende September 2021 auch aufgrund der Erfolge der Impfkampagne für ganz Japan wieder aufgehoben.

Die Webseite amg-news.com verweist auf eine Studie, die allerdings nicht näher genannt wird. Es handelt sich offensichtlich um die Studie «Erhöhte altersbereinigte Krebssterblichkeit nach der dritten mRNA-Lipid-Nanopartikel-Impfstoffdosis während der COVID-19-Pandemie in Japan» (Increased Age-Adjusted Cancer Mortality After the Third mRNA-Lipid Nanoparticle Vaccine Dose During the COVID-19 Pandemic in Japan).

Autor schränkt Aussagekraft der eigenen Studie ein

Diese Studie unter Leitung des Kinderarztes Miki Gibo aus dem gut 3000 Einwohner zählenden japanischen Ort Yusuhara wurde am 8. April 2024 in der zum Wissenschaftsverlag Springer Nature Group gehörenden medizinischen Zeitschrift Cureus veröffentlicht.

Der Untersuchung zufolge gab es in Japan im ersten Jahr der Pandemie (2020) keine erhebliche Übersterblichkeit. Allerdings seien 2021 nach den Impfungen mit der ersten und zweiten Impfstoffdosis «einige erhöhte Krebssterblichkeitsraten» registriert worden. 2022 seien «nach der Massenimpfung mit der dritten Dosis» signifikant erhöhte Sterblichkeitsraten insbesondere für Eierstockkrebs, Leukämie, Prostatakrebs, Lippen-, Oral-, Rachen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs sowie Brustkrebs beobachtet worden.

In dem Papier heißt es, diese besonders hohen Anstiege «könnten auf verschiedene Mechanismen der mRNA-LNP-Impfung zurückzuführen sein und nicht auf die COVID-19-Infektion selbst oder auf eine verringerte Krebsbehandlung aufgrund des Lockdowns». Diese Möglichkeit «erfordert weitere Studien», schreibt der Autor dann. Und er schränkt die Aussagekraft der eigenen Studie weiter ein: «Diese Studie wurde anhand von deskriptiven Statistiken aus öffentlichen Quellen durchgeführt und ist nicht klinisch validiert worden. Es sind weitere analytische statistische Untersuchungen nach Impfstatus erforderlich.»

Kritiker weisen aus zahlreiche Unsicherheiten hin

Andere Wissenschaftler haben die Studie kritisiert oder in Frage gestellt. So betont der Betreiber des Wissenschafts-Blogs TechARP, Adrian Wong, mit den öffentlich verfügbaren Daten lasse sich «keine Korrelation, geschweige denn eine Kausalität nachweisen». Das Papier gebe nicht einmal Auskunft über den Impfstatus der bei der Studie berücksichtigten Personen. Zudem hätten nur etwa zwei Drittel der Bevölkerung drei Impfdosen erhalten - man wisse also nicht, welche Impfungen gestorbene Krebspatienten tatsächlich erhalten hätten.

In Japan seien auch Impfstoffe eingesetzt worden, die nicht auf der mRNA-Technologie beruhten: Deswegen könne man mit den benutzten Daten eine Übersterblichkeit durch mRNA-Impfungen kaum erfassen. Außerdem gebe es keine Kontrollgruppe. «Nach allem, was wir wissen, könnten die überzähligen Todesfälle darauf zurückzuführen sein, dass ungeimpfte Krebspatienten an COVID-19 starben. Schließlich sterben Krebspatienten mit größerer Wahrscheinlichkeit an Covid-19 als gesunde Menschen.»

Selbst die Webseite trialsitenews.com - die sich als «unabhängiges zensurfreies Medium für Gesundheit und biomedizische Forschung» bezeichnet - schrieb, die Studie werfe zwar beunruhigende Fragen auf, «doch sind diese Studienergebnisse nicht gleichbedeutend mit einem bestätigenden Beweis dafür, dass zwischen COVID-19-Impfstoffen und Krebs ein kausaler Zusammenhang besteht».

Auch in den Reaktionen auf der Cureus-Webseite wirft ein japanischer Arzt dem Autor «Spekulationen» vor. Ein anderer Arzt weist auf den Rückgang der altersbereinigten Krebs-Sterberaten in Japan von 2021 zu 2022 hin und schreibt: «Diese Studie trägt nichts Nützliches zur medizinischen Literatur bei.»

Wortschöpfung «Turbokrebs» ist kein medizinischer Begriff

Wissenschaftler bestreiten, dass es «Turbokrebs» überhaupt gibt. Das Wort «Turbokrebs» ist ein Laienbegriff, keine bekannte medizinische Bezeichnung. Es finden sich keine Einträge auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO). Ein angeblicher Anstieg von Tumorbefunden in Folge der Impfung ist der DGHO nicht bekannt.

«Wenn das ein echtes Problem wäre, hätten wir das bemerkt», sagte die Jenaer Professorin Marie von Lilienfeld-Toal, Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Infektionen in der DGHO, der dpa bereits im Januar 2022. «Wir finden keine erhöhte Rate von Rückfällen.»

Auf Anfrage bestätigte die Professorin im Januar 2023: «Die Einschätzung der DGHO hat sich nicht geändert.» Die wissenschaftliche Fachgesellschaft weist darauf hin, dass Krebspatienten «ein besonders hohes Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 haben». Deswegen werde ihnen vorrangig eine Impfung empfohlen.

(Stand: 26.04.2024)

Links

Facebook-Post, archiviert

Webseite amg-news.com, archiviert

Japanische Studie Krebssterblichkeit , archiviert

TechARP, archiviert

trialsitenews.com, archiviert

Suche bei DGHO, archiviert

dpa Faktencheck Januar 2022

Impfempfehlung DGHO, archiviert

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