Netzwerk warnt vor Verzerrung

Statistik zur Kinder-Übersterblichkeit falsch interpretiert

04.12.2023, 15:49 (CET)

Bei Statistiken sollte man wissen, wie sie zustande gekommen sind und was sie wirklich aussagen. Sonst sind falsche Annahmen und Mutmaßungen möglich. Wie auch in diesem Fall.

Aus Zahlen des Netzwerkes zur Überwachung der Sterblichkeit in den EU-Staaten (Euromomo) geht angeblich hervor, dass die Sterblichkeit von Kindern dramatisch zugenommen habe, nachdem die EU-Arzneimittelbehörde (EMA) Covid-Impfstoffs zugelassen hatte. Diese Behauptung wird mit der Überschrift «Nach der Notfallzulassung des Covid-Impfstoffs für Kinder durch die EMA steigt die Zahl der Todesfälle bei Kindern in Europa weiter in die Tausende» verbreitet.

Bewertung

Die Behauptung ist falsch. Sie beruht auf einer falschen Interpretation der Statistik, vor der die Autoren der Statistik ausdrücklich warnen.

Fakten

Ein in Luxemburg geteilter Facebook-Post verlinkt zu einem Beitrag der schweizerischen Webseite uncutnews.ch - und zwar mit den Worten: «Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich auch Luxemburg mit diesem Thema beschäftigen muss.»

In dem Artikel wird behauptet, dass in den Jahren 2020 und 2021 jeweils weniger Kinder als erwartet gestorben seien. Nach der Zulassung des Covid-Impfstoffes durch die EMA vom Mai 2021 habe jedoch die Zahl der «überzähligen Sterbefälle» deutlich zugenommen. Bis Ende 2021 seien 685 Kinder mehr als erwartet gestorben. Auch 2022 seien 1385 Kinder mehr als erwartet gestorben. Und auch bis zur 45. Woche des Jahres 2023 habe sich dieser Trend mit 753 überzähligen Todesfällen von Kindern fortgesetzt.

Unterschied zwischen Erwartung und Wirklichkeit

Das EU-Netzwerk zur Überwachung der Sterblichkeit (Euromomo) definiert die Übersterblichkeit als Unterschied zwischen der tatsächlich registrierten Zahl von Todesfällen und der erwarteten Zahl von Todesfällen. Die erwartete Zahl von Todesfällen wird normalerweise aufgrund der registrierten Todesfälle in den fünf vorangegangenen Jahren geschätzt. Und zwar für jede Woche einzeln. Dieses Verfahren wird auf der Webseite des Netzwerks und auch in den wöchentlichen Berichten über die Sterblichkeit in der EU erläutert.

Wegen der erhöhten und unterschiedlichen Sterblichkeit während der COVID-Pandemie hat Euromomo jedoch die Daten der drei Pandemiejahre 2020 bis 2022 aus der Berechnung der erwarteten Sterblichkeit herausgenommen. Unter anderem deswegen, weil die normale Annahme, dass es im Frühjahr und Herbst üblicherweise keine erhöhte Sterblichkeit gibt, in den Pandemiejahren nicht stimmte. Einfacher gesagt: Die erwartete Sterblichkeit beruht auf Berechnungen, die nicht die aktuelle Entwicklung der vergangenen fünf Jahre widerspiegeln. Erst seit Frühling 2023 werden wieder aktuelle Sterbedaten für die Berechnung der erwarteten Sterblichkeit verwendet.

Im Bericht über die 19. Kalenderwoche (vom 8. bis 14. Mai 2023) weist Euromomo darauf hin, dass diese Tatsache gerade bei der Altersgruppe der Kinder bis zu 14 Jahren «im Laufe der Zeit zu einer zunehmenden Verzerrung geführt» habe. Dies gelte insbesondere dann, wenn die Zahlen kumuliert - also Woche für Woche aufaddiert - würden.

Die geschätzte «Basislinie», also die erwartete Sterblichkeit, sei in den Jahren vor der Pandemie bei den Kindern stetig zurückgegangen. Wegen der Abwesenheit von Daten für die Jahre 2020 bis 2022 habe man diese nach unten gerichtete Basislinie der «rückläufigen Ausgangssterblichkeit» aufgrund der älteren Daten einfach weiter verlängern müssen.

Die Zahl der gemeldeten Todesfälle war beispielsweise in der ersten Woche 2020 genauso hoch wie in der 40. Woche des Jahres 2022. Wegen der sinkenden Basislinie bedeutet dies jedoch, dass es in der 40. Woche des Jahres 2022 trotz identischer Zahlen eine Übersterblichkeit von 29 Todesfällen gegeben habe. Bei wöchentlicher Addition werde diese Verzerrung immer größer.

Anders gesagt: Auch wenn es jede Woche die gleiche Zahl von Todesfällen gäbe, würde bei einer ständig sinkenden «Basislinie» die Übersterblichkeit stetig anstiegen. Daher warnt Euromomo, die kumulierten Ergebnisse hinsichtlich der berechneten Übersterblichkeit könnten «zum jetzigen Zeitpunkt nicht als zuverlässig angesehen werden und müssen mit großer Vorsicht interpretiert werden».

Das Netzwerk betont im Mai 2023, es stellte «während der laufenden COVID-19-Pandemie nicht mehr Todesfälle bei den 0- bis 14-Jährigen fest als in der Zeit vor der COVID-19-Pandemie, auch wenn die auf der Euromomo-Website gemeldeten kumulierten Ergebnisse dies vermuten lassen».

Die Webseite «uncutnews.ch» geht hingegen mit keinem Wort auf die ständigen Warnungen von Euromomo vor einer falschen Interpretation der Zahlen ein. Stattdessen behauptet sie, es sei «offensichtlich», dass die Verabreichung des Impfstoffs «Tausende Kinder mehr als erwartet das Leben gekostet hat». Diversen Studien zufolge haben sich allerdings die Corona-Impfstoffe als sicher und wirksam erwiesen.

Die Impfstoffe wurden im Mai 2021 erst für Jugendliche ab 12 Jahren, im Dezember 2021 dann auch für Kinder ab fünf Jahren zugelassen. Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt eine Corona-Impfung für gesunde Menschen unter 18 Jahren inzwischen nicht mehr, da sich unter anderem wegen der Omikron-Variante das Risikoprofil des Virus geändert hat.

(Stand 04.12.2023)

Links

Facebook-Post, archiviert

Webseite uncutnews.ch, archiviert

Euromomo zu Übersterblichkeit, archiviert

Euromomo zu 19. KW, archiviert

Studie zur Sicherheit, archiviert

Ständige Impfkommission, archiviert

Über dpa-Faktenchecks

Dieser Faktencheck wurde im Rahmen des Facebook/Meta-Programms für unabhängige Faktenprüfung erstellt. Ausführliche Informationen zu diesem Programm finden Sie hier.

Erläuterungen von Facebook/Meta zum Umgang mit Konten, die Falschinformationen verbreiten, finden Sie hier.

Wenn Sie inhaltliche Einwände oder Anmerkungen haben, schicken Sie diese bitte mit einem Link zu dem betroffenen Facebook-Post an factcheck-luxembourg@dpa.com. Nutzen Sie hierfür bitte die entsprechenden Vorlagen. Hinweise zu Einsprüchen finden Sie hier.

Schon gewusst?

Wenn Sie Zweifel an einer Nachricht, einer Behauptung, einem Bild oder einem Video haben, können Sie den dpa-Faktencheck auch per WhatsApp kontaktieren. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.