Urteil falsch dargestellt

Christine Lagarde blieb straffrei trotz Fahrlässigkeit

11.05.2023, 21:45 (CEST)

Der Richterspruch über die Präsidentin der europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, ist kompliziert. Da entstehen leicht falsche Behauptungen. So auch in diesem Fall.

Christine Lagarde ist angeblich wegen Begünstigung vorbestraft, hat aber diese Strafe nie absitzen müssen. Ein Video mit dieser Behauptung wird aktuell in Luxemburg verbreitet.

Bewertung

Die Behauptung ist falsch. Lagarde ist nicht wegen Begünstigung vorbestraft. Sie wurde wegen eines anderen Delikts für schuldig befunden. Nach diesem Richterspruch gilt sie gemäß französischem Recht als nicht vorbestraft.

Fakten

In einem in Luxemburg verbreiteten Facebook-Post wird zu einem Video verlinkt, in dem sich der Autor Ernst Wolff über die derzeitige EZB-Präsidentin und frühere Präsidenten des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, äußert. Diese sei «extrem korrupt»: «Die Dame ist nämlich in Frankreich wegen Begünstigung vorbestraft.»

Wolff behauptet, der französische Unternehmer und Politiker Bernard Tapie habe, als er Besitzer des Sportartikelherstellers Adidas (von 1990 bis 1993) gewesen sei, «damals sich Geld besorgt». «Und das waren sehr, sehr dubiose Sachen, die da gelaufen sind.» Christine Lagarde, die von Juni 2007 bis Juni 2011 französische Finanzministerin war, habe «dafür gesorgt, dass der Mann straffrei rausgegangen ist, ist dann anschließend verklagt worden und tatsächlich wegen Begünstigung bestraft worden».

Mit den Tatsachen hat diese Darstellung nichts zu tun. Zutreffend ist vielmehr, dass der schillernde, populäre und politisch bestens vernetzte Unternehmer Tapie mehrmals zu Gefängnisstrafen verurteilt wurde. Von drei Verurteilungen wurde in zwei Verfahren die Haft später wieder aufgehoben, in einem Fall verbüßte er sechs Monate hinter Gittern. Dabei handelte es sich um ein 1995 ergangenes Urteil wegen der Manipulation eines Spiels des Fußballvereins Olympique Marseille, dessen Eigentümer Tapie damals war.

Die Behauptung, Lagarde habe «dafür gesorgt, dass der Mann straffrei rausgegangen ist», kann anhand von Fakten nicht nachvollzogen werden.

Die Behauptung, Lagarde sei «tatsächlich wegen Begünstigung bestraft worden», ist falsch. Lagarde wurde am 19. Dezember 2016 zum Abschluss eines Strafverfahrens vor dem Gerichtshof der Republik (Cour de justice de la République CJR) der Fahrlässigkeit (négligence) im Umgang mit öffentlichen Geldern in Höhe von 45 Millionen Euro für schuldig befunden. Auch die Anklage war wegen Fahrlässigkeit erhoben worden, nicht wegen Begünstigung (favoritisme).

Das Urteil gegen Lagarde bezieht sich auf Artikel 432-16 des französischen Strafgesetzbuches, der die «Fahrlässigkeit einer Person, ... die Träger öffentlicher Gewalt ist,» bestraft. Es bezieht sich nicht auf den in Artikel 432-14 geregelten und völlig anders definierten Tatbestand der Begünstigung.

Tatsächlich ist Lagarde zwar der Fahrlässigkeit für schuldig befunden, aber deswegen nicht zu einer Strafe verurteilt worden. In dem Urteil heißt es ausdrücklich, dass Lagarde nicht bestraft werde. Ebenfalls ausdrücklich beschloss das Gericht, dass es keinen Eintrag im Vorstrafenregister geben werde.

Nach französischem Recht gilt jede Person, die keinen Eintrag im Vorstrafenregister hat, als nicht vorbestraft. Daher sind die Behauptungen falsch, Lagarde sei vorbestraft und wegen Begünstigung verurteilt worden, habe aber ihre Strafe nie absitzen müssen. Eine leicht verständliche Darstellung der wesentlichen Urteils-Punkte bietet beispielsweise dieser Artikel der Zeitung «Le Monde».

Es stimmt, dass das milde Urteil des Gerichts unter anderem damit begründet wurde, man müsse berücksichtigen, dass Lagarde als Finanzministerin mit der Bekämpfung einer internationalen Finanzkrise beschäftigt gewesen sei. «Ihre Persönlichkeit und ihr nationaler und internationaler Ruf müssen ebenfalls berücksichtigt werden», heißt es in dem Beschluss des Gerichts.

Der Verwaltungsrat des Internationalen Währungsfonds IWF, an dessen Spitze Lagarde im Dezember 2016 stand, bekundete seiner Chefin unmittelbar nach dem Urteil sein volles Vertrauen.

Hinter dem Schuldspruch für Lagarde steht eine langwierige Auseinandersetzung zwischen Tapie und den französischen Behörden. Dabei ging es - vereinfacht gesagt - darum, dass die Bank Crédit Lyonnais die Adidas-Anteile von Tapie zurückkaufte, kurz danach jedoch für etwa das Doppelte weiterverkaufte. Dadurch fühlte sich Tapie betrogen. Im Streit mit einem öffentlichen Konsortium, das mit der Abwicklung des zwischenzeitlich zahlungsunfähig gewordenen Bankhauses beauftragt war, hatte ein Schiedsgericht Tapie eine Entschädigungszahlung von 405 Millionen Euro zugebilligt. 45 Millionen davon sollten als eine Art Schmerzensgeld für erlittene Unbill gelten. Lagarde wurde vorgeworfen, gegen diesen Schiedsgericht-Spruch keinen Einspruch erhoben zu haben, der französisches Steuergeld hätte schützen können.

Für die Behauptung in dem Video, Lagarde sei «extrem korrupt» und gehöre zu den «Korruptesten der Korrupten», gibt es keinerlei Beweis. Zu keinem Zeitpunkt wurde Lagarde beschuldigt, sich illegal selbst bereichert zu haben.

(Stand: 11.05.2023)

Links

Facebook-Post, archiviert

Video, archiviert

Urteil CJR, archiviert

Artikel 432-16, archiviert

Bedeutung des Vorstrafenregisters, archiviert

Le Monde, archiviert

Verwaltungsrat IWF, archiviert

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