Geschichte falsch dargestellt

Die «Spanische Grippe» traf alle - unabhängig von Impfungen

8.5.2023, 16:58 (CEST)

Eine Tatsache vorweg: Als 1918/19 die «Spanische Grippe» Millionen Menschen dahinraffte, gab es noch keine Grippeimpfung. Andere Impfungen halfen aber gegen andere Krankheiten, wie Typhus.

Die sogenannte Spanische Grippe von 1918/19 gehört mit geschätzt mindestens 20 Millionen Toten weltweit zu den schlimmsten globalen Epidemien überhaupt. Nun wird behauptet, «alle Geimpften» seien damals gestorben. Gegen die Grippe war damals allerdings noch niemand geimpft.

Bewertung

Die Behauptung, der Grippeepidemie vor gut 100 Jahren hätten nur die Ungeimpften entgehen können, ist verkehrt. In einem Video werden auch andere falsche Behauptungen über den Zusammenhang von «Spanischer Grippe» und Impfungen wiederholt.

Fakten

In einem Facebook-Post aus Luxemburg wird in luxemburgischer Sprache behauptet: «Während der Spanischen Grippe starben alle Geimpften.» Zugleich wird im Jargon der Verschwörungsgläubigen geraunt: «Und sie haben es wieder getan.»

Mit dem Post verbunden ist ein bekanntes Foto aus dem Nationalarchiv der USA, welches Soldaten in einer mit Betten gefüllten Halle in Camp Funston (Kansas) zeigt, die sich 1918 in Quarantäne befinden, um sich von der «Spanischen Grippe» zu erholen. Die Aufnahme ist in einem dreiminütigen Video enthalten, mit dem der Post verlinkt ist. Das Video besteht vor allem aus aneinandergereihten englischsprachigen Texttafeln, unterlegt mit bedrohlich wirkender, düsterer Musik.

Die Behauptung, während der «Spanischen Grippe» seien «alle Geimpften» gestorben, wird auch in dem Video (2:03) erhoben: «Die einzigen, die letztlich der Grippe entkommen sollten, waren jene, die die Impfungen ablehnten.» Für diese Behauptung gibt es keinerlei Beleg. Wolfgang U. Eckart, Medizinhistoriker an der Medizinischen Fakultät Heidelberg, sagte der Deutschen Presse-Agentur schon im Mai 2021, die Grippe habe damals alle gleichermaßen getroffen.

Falls der Post darüber hinaus den Eindruck erwecken sollte, es seien 1918 jene gestorben, die gegen die Grippe geimpft gewesen seien, so wäre dieser erkennbar falsch: 1918 gab es noch keine Grippeimpfung. Damals gingen die Mediziner noch davon aus, dass die Grippe von einem Bakterium übertragen werde. Dass es sich tatsächlich um ein Virus handelt, war damals unbekannt.

In dem Video ist von einer Grippe-Impfung auch gar nicht die Rede. Tatsächlich wird dort behauptet, eine seit 1911 in der US-Armee geltende Pflicht zu Impfungen gegen Typhus und Pocken sei der Grund für hohe Sterberaten in den Streitkräften gewesen. Sieben Männer seien nach einer Impfung gestorben. Und auch aus einem Bericht des US-Kriegsministers Henry L. Stimson gehe hervor, dass es 63 Todesfälle und 28 585 Fälle von Hepatitis als direkte Folge von Impfungen gegen Gelbsucht gegeben habe(0:22).

An dieser Behauptung ist richtig, dass Stimson US-Kriegsminister war. Allerdings sogar zweimal: Ein erstes Mal von 1911 bis 1913 (also vor dem 1. Weltkrieg), ein zweites Mal von 1940 bis 1945 (also während des 2. Weltkriegs). Tatsächlich hatte Stimson bei einer Pressekonferenz am 24. Juli 1942 mitgeteilt, dass 24.057 Angehörige der Streitkräfte nach einer Gelbfieberimpfung an Gelbsucht erkrankt seien und es 62 Todesfälle gegeben habe. Dieses Ereignis aus der Mitte des Zweiten Weltkrieges hat mit der «Spanischen Grippe» von 1918 weder zeitlich noch inhaltlich irgendetwas zu tun.

Die falsche zeitliche und inhaltliche Zuordnung der Mitteilung von Stimson findet sich ebenso wie andere falsche Behauptungen aus dem Video bereits in einem auf den 8. Mai 2003 datierten Beitrag eines Lesers der irischen Tageszeitung «Irish Examiner».

In dem Video wird behauptet, nach der Einführung der Impfpflicht in der US-Armee hätten die Erkrankungen an Typhus und andere Impferkrankungen alarmierend zugenommen. Der Generalstabsarzt habe in seinem Jahresbericht für 1917 über den Gesundheitszustand der US-Streitkräfte darauf hingewiesen.

In diesem Bericht, der via Google Books abrufbar ist, heißt es unter anderem (Seite 224), seit der Einführung der Impfpflicht 1911 habe man jedes Jahr «immer mehr überzeugende Beweise für den Wert der obligatorischen Impfung gegen Typhus für die Armee» vorlegen können. 1917 sei diese Art des Schutzes «natürlich stärker als je zuvor auf die Probe gestellt worden». Der Generalstabsarzt stellt fest: «Aber die Ergebnisse haben die frühere Schlussfolgerung hinsichtlich des Wertes der Impfung gerechtfertigt.» 1917 habe es nur 297 Typhusfälle in den Streitkräften gegeben, deutlich weniger als noch 1911.

Falsch ist zudem die in dem Video aufgestellte Behauptung, die US-Militärärzte hätten während des Ersten Weltkrieges versucht, mit immer stärkeren und gefährlicheren Impfstoffen den Typhus zu bekämpfen. Als dies nicht mehr gelungen sei, habe man beschlossen, die Erkrankung als «Spanische Grippe» zu bezeichnen (1:38). Für diese Behauptung gibt es keinerlei Beweis. Unbewiesen ist auch die Behauptung, «Medizinhistoriker» seien der Auffassung, die «Spanische Grippe» sei ausschließlich das Ergebnis des großflächigen Einsatzes von Impfstoffen (2:11).

Über die Zahl der Todesopfer der «spanischen Grippe» gibt es keine genauen Angaben. Schätzungen bewegen sich zwischen 20 und 50 Millionen, wie sich etwa beim Journal of Preventive Medicine and Hygiene, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder im Bulletin of the History of Medicine nachlesen lässt.

Alleine in den USA starben 1918 rund 675 000 Amerikaner an der Grippe. Nach Angaben der US-Streitkräfte erlagen 1918 rund 45 000 US-Soldaten der Grippe und einer damit verbundenen Lungenentzündung, während rund 53 000 bei Kampfhandlungen starben.

(Stand: 08.05.2023)

Links

Facebook-Post, archiviert

Video, archiviert

Kriegsminister Stimson, archiviert

Stimson-Mitteilung 1942, archiviert

Leserzuschrift Irish Examiner 2003, archiviert

US Surgeon General Jahresbericht 1917

Journal of Preventive Medicine, archiviert

Weltgesundheitsorganisation, archiviert

Bulletin of the History of Medicine, archiviert

US-Streitkräfte, archiviert

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