«Geschichtsunterricht» ist unvollständig und teilweise falsch

06.05.2022, 12:25 (CEST)

«Ein bisschen Geschichtsunterricht für alle» über die Beziehungen zwischen Russland und der NATO wollen manche Nutzer sozialer Netzwerke erteilen. Sie zählen dazu einige Ereignisse der Jahre 1989 bis 2022 auf und behaupten wie in diesem Facebook-Post, die deutschen Medien hätten über manche Dinge nie berichtet.

Bewertung

Dieser «Geschichtsunterricht» lässt eine Reihe von wichtigen Ereignissen in den Beziehungen zwischen Russland und der NATO aus. So fehlt der gesamte Zeitraum von 1991 bis 2001. Andere Ereignisse werden falsch oder aus dem Zusammenhang gerissen dargestellt.

Fakten

Der Post lässt wichtige Punkte aus - beispielsweise die von Russland unterzeichnete «Grundakte» über die Beziehungen zur NATO. Die Behauptungen über die verbliebenen US-Tuppen sind zumindest irreführend, über die Zustimmung zur Annexion der Krim sind sie unvollständig. Falsch sind Behauptungen über das engebliche Schweigen deutscher Medien über den Konflikt im Donbass.

Es gibt in der Tat eine Reihe von Hinweisen darauf, dass sowohl der letzte sowjetische Präsident Michail Gorbatschow (amtierte bis Dezember 1991) als auch dessen Nachfolger Boris Jelzin (bis 1999) aufgrund von Gesprächen mit führenden westlichen Politikern - unter anderem mit dem damaligen US-Außenminister James Baker und dessen deutschen Kollegen Hans-Dietrich Genscher - davon ausgingen, dass die NATO sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Warschauer Paktes nicht nach Osten erweitern würde. Einen schriftlich und verbindlich festgelegten Verzicht der NATO auf eine «Osterweiterung» gibt es nicht.

Die NATO hatte im Dezember 1991 mit der Gründung des Nordatlantischen Kooperationsrates (NACC) auf den Annäherungswunsch der früheren mittel- und osteuropäischen Mitglieder des Warschauer Paktes reagiert. 1994 gründete die NATO die «Partnerschaft für den Frieden» (PfP). Vor dem Hintergrund des ersten Tschetschenien-Kriegs (ab 1994) und den Konflikten mit russischer Beteiligung in Transnistrien und in Abchasien wuchs Mitte der 90er-Jahre bei osteuropäischen Staaten der Wunsch, der NATO beizutreten.

Tatsächlich hatte Jelzin bereits im August 1993 in einer gemeinsamen Erklärung mit dem polnischen Präsidenten Lech Walesa erklärt, dass «auf lange Sicht» ein Beitritt Polens zur NATO «in keinem Konflikt zu den Interessen anderer Staaten einschließlich jener Russlands» stehe. Damals hatte auch der russische Außenminister Andrej Kosyrew erklärt, die Erweiterung der NATO als solche sei kein Problem, wichtig sei wie diese Erweiterung erfolge. Er könne sich auch vorstellen, dass Russland der NATO beitreten oder dass Russland und die NATO Teil eines paneuropäischen Sicherheitssystems würden. Im Dezember 1994 warnte Jelzin jedoch vor einem «kalten Frieden» in Europa, falls die NATO-Erweiterung voranschreite.

Nach fast dreijährigen Verhandlungen wurde im März 1997 zwischen der NATO und Russland eine «Grundakte» über die künftigen Beziehungen beider Seiten unterzeichnet. Mit Blick auf künftige Erweiterungen erklärte die NATO zum bisherigen Gebiet des Warschauer Paktes, sie wolle «im gegenwärtigen und absehbaren Sicherheitsumfeld» ihre Aufgabe nicht «durch die zusätzliche ständige Stationierung substanzieller Kampftruppen erfüllen». Zugleich verzichtete Moskau auf die Stationierung von Atomraketen in Kaliningrad.

Mit der «Grundakte» wurde ein gemeinsamer NATO-Russland-Rat geschaffen, Russland errichtete eine Botschaft auf dem NATO-Gelände, beide Seiten verpflichteten sich zum Verzicht auf Gewalt. In der von Russland akzeptierten Grundakte wird ausdrücklich ein Vetorecht der jeweils anderen Seite über Entscheidungen der NATO oder Russlands ausgeschlossen, auch findet sich dort keine Verpflichtung zu einem Verzicht auf eine NATO-Erweiterung. Eine wie auch immer definierte «Pufferzone» wurde nicht vereinbart.

Die Behauptung der Nutzers aus Luxemburg, «die amerikanischen Truppen bleiben in Deutschland stationiert» ist nur die halbe Wahrheit. 2021 wurde die Zahl in Europa permanent oder rotierend stationierten US-Soldaten mit rund 70 000 angegeben. Beim Fall der Mauer 1989 waren es noch 315 000. Das bedeutet, dass inzwischen etwa 250 000 US-Soldaten aus Europa, vor allem aus Deutschland, abgezogen wurden. Eine Reihe von militärischen Einrichtungen der USA wurde geschlossen. 2021 war die Zahl amerikanischer Soldaten in Europa so gering wie nie zuvor seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Es trifft zu, dass Russland nach 1990 eine Reihe von Vorschlägen für eine neue Friedensordnung in Europa gemacht hat, unter anderem durch eine Stärkung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Diese Vorschläge scheiterten vor allem daran, dass viele NATO-Mitglieder, auch die USA, dadurch eine Verringerung der Entscheidungsfähigkeit des Bündnisses fürchteten. Für die Behauptung «Der Amerikaner verbietet das» gibt es keinen Beleg.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte am 25.9.2001 vor dem Deutschen Bundestag in einer Rede bedauert, man habe es bisher nicht geschafft, «einen effektiven Mechanismus der Zusammenarbeit auszuarbeiten». Die bisher geschaffenen Koordinationsmechanismen gäben Russland «keine realen Möglichkeiten, bei der Vorbereitung der Beschlussfassung mitzuwirken». Die Trennungslinien in Europa blieben erhalten, «weil wir uns bis jetzt noch nicht endgültig von vielen Stereotypen und ideologischen Klischees des kalten Krieges befreit haben». «Der kalte Krieg ist vorbei», erklärte Putin, ohne sein Angebot für eine Zusammenarbeit zu konkretisieren.

Die Behauptung, der Westen habe 2014 die russlandfreundliche Regierung der Ukraine aus dem Amt geputscht, wird immer wieder von Putin und anderen russischen Politikern zur Rechtfertigung der Annexion der Krim benutzt. Die USA haben eingeräumt, oppositionelle Kräfte gegen den damaligen prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch unterstützt, nicht jedoch einen Putsch inszeniert zu haben.

Auch für die Behauptung, «außer ein paar Krimtataren» seien bis heute 90 Prozent der Einwohner der Krim mit der russischen Annexion einverstanden gewesen, fehlt ein belastbarer Beleg. Prorussische Kräfte organisierten zwar ein sogenanntes Referendum, bei dem sich am 16. März 2014 nach russischen Angaben 95,5 Prozent der Abstimmenden für den Anschluss an Russland aussprachen. Die OSZE hatte jedoch keine Wahlbeobachter entsandt, weil sie die Abstimmung als illegal einstufte. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen erklärte Ende März 2014 bei nur elf Gegenstimmen die Abstimmung auf der Krim für ungültig und bekräftigte die territoriale Integrität der Ukraine.

Der Post verweist des weiteren darauf, dass in dem von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiet der Ostukraine russische Kinder gestorben seien und die Ukraine keine Renten mehr in diese Gebiete zahle. Die Lebensmittelversorgung dieser Gebiete habe ausschließlich Russland übernommen. «Nichts davon findet Erwähnung in den deutschen Medien», wird behauptet. Dies ist falsch. Eine Google-Suche beispielsweise nach den Begriffen «Ostukraine+Renten» oder «Ostukraine+Kinder+getötet» ergibt zahlreiche Medienberichte.

(Stand: 06.05.2022)

Links

Facebook-Post, archiviert

Erklärung Jelzin, archiviert

Jelzin-Warnung, archiviert

NATO-Russland-Grundakte, archiviert

US-Truppenstärke, archiviert

Abzug US-Truppen, archiviert

Rede Putin 2001, archiviert

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