Effizienz von Impfstoffen: Verschiedene Zahlen können richtig sein
21.5.2021, 17:58 (CEST)
Wie wirksam sind die Impfstoffe gegen COVID-19 wirklich? In Facebook-Posts wird der Eindruck erweckt, die Wirksamkeit sei wesentlich geringer als bisher stets angenommen. Die «Effizienzwerte» liegen demnach nicht im Bereich von etwa 70 oder 90 Prozent, sondern nur bei etwa 1 Prozent.
BEWERTUNG: Die Behauptung, die Impfstoffe böten einen «schlechten Schutz», ist falsch. Sowohl die einen als auch die anderen Zahlen sind richtig - weil sie jeweils etwas völlig anderes aussagen.
FAKTEN: In den sozialen Medien wird ein Post (hier archiviert) über «die wissenschaftlich belegten Effizienzwerte der Impfstoffe» geteilt. Unter Hinweis auf die renommierte Wissenschaftspublikation «The Lancet» (hier archiviert) heißt es dort, die Effizienz liege bei 1,3 Prozent für Astrazeneca, bei jeweils 1,2 Prozent für Moderna und Johnson and Johnson sowie bei nur 0,84 Prozent für Biontech/Pfizer. Der Leser wird gefragt, ob er «für diesen schlechten Schutz vor Corona» sein Leben riskieren wolle. Um welche «Effizienzwerte» es sich handelt, bleibt in dem Post unerwähnt.
Die Effizienz eines Medikaments wird oft mit zwei Werten ausgedrückt. Dabei handelt es sich zum einen um die Absolute Risikoreduktion (ARR) und zum anderen um die Relative Risikoreduktion (RRR). Beide Werte sind unterschiedlich, obwohl sie von identischen Zahlen ausgehen. Dabei sind die ARR-Werte üblicherweise sehr gering, die RRR-Werte jedoch recht hoch. Im Marketing von Medikamenten wird, wie das «Deutsche Ärzteblatt» (hier archiviert) schon 2005 bedauerte, meist mit den RRR-Werten gearbeitet, weil diese eindrucksvoller klingen.
Auch bei dem Artikel in der Zeitschrift «The Lancet» geht es nicht um neue wissenschaftliche Erkenntnisse hinsichtlich der Wirksamkeitsangaben der Impfstoff-Hersteller. Vielmehr handelt es sich um einen ausdrücklich als «Kommentar» bezeichneten Meinungsbeitrag von Wissenschaftlern. Diese bedauern ähnlich wie das «Deutsche Ärzteblatt», dass die Impfstoffhersteller bisher in der öffentlichen Präsentation der Vakzine stets mit den relativen Werten operieren und nicht auch die absoluten Werte nennen.
In der in Basel (Schweiz) beheimateten Open-Access-Plattform MDPI wird in einem Artikel von Medicina (hier archiviert) dieses Vorgehen der Hersteller ebenfalls kritisiert, weil es die Interpretation der Zahlen erschwere.
Dies sind die wesentlichen Unterschiede in der Darstellung der Zahlen:
Bei der Relativen Risikoreduktion (RRR) bedeutet eine Wirksamkeit von 95 Prozent beispielsweise beim Impfstoff von Biontech/Pfizer, dass 95 Prozent der Fälle vermieden werden, die in einer vergleichbaren Gruppe von Nichtgeimpften auftreten würden. Es geht hier darum, dass beispielsweise in zwei gleich großen Gruppen von knapp 22 000 Menschen 8 der Geimpften und 162 der Nichtgeimpften infiziert wurden.
Simpler gesagt: Beim relativen Risiko wird das Risiko einer mit einem bestimmten Vakzin oder Medikament behandelten Gruppe in Beziehung gesetzt zum Risiko einer anderen Gruppe, die ohne dieses Vakzin oder Medikament auskommen musste. Die Absolute Risikoreduktion (ARR) gibt in Prozentpunkten an, um wieviel das Risiko in Bezug auf alle Untersuchten geringer wird.
Im Medicina-Artikel wird das mit folgendem Beispiel verdeutlicht: In einer Gruppe von 100 ungeimpften Personen infizieren sich durchschnittlich 2 Personen mit einer Krankheit. Das sind zwei Prozent. In einer Testgruppe von 100 Geimpften infiziert sich nur eine Person, also ein Prozent.
Das Erkrankungsrisiko liegt bei den Ungeimpften bei 2 Prozent und bei den Geimpften bei 1 Prozent. Die Absolute Risikoreduzierung (ARR) beträgt also genau 1 Prozent (2 Prozent minus 1 Prozent). Ganz anders sieht die Relative Risikoreduzierung (RRR) aus: Die Verringerung von zwei Personen auf eine Person bedeutet nämlich eine Reduzierung um 50 Prozent.
In diesem Beispielfall ist sowohl die Wirksamkeitsangabe von 1 Prozent als auch von 50 Prozent korrekt - sofern klargemacht wird, worum es geht. In dem Lancet-Kommentar und in dem Beitrag von Wissenschaftlern in Medicina wird kritisiert, dass diese Verdeutlichung oft fehlt und dass gelegentlich auch Mediziner nicht wirklich wissen, wie die Zahlen zustandekommen. Detailliertere Erläuterungen und Formelsammlungen finden sich in einem Artikel (hier archiviert) der US-Biostatistikerin Mary L. McHugh.
Ebenso falsch wie die Behauptung, die Impfstoffe böten einen «schlechten Schutz» vor Covid-19, ist auch die Erklärung, mit einer Impfung riskierten Menschen ihr Leben. Die Mittel sind auf ihre Sicherheit geprüft und die Gefahr schwerer Nebenwirkungen wird häufig stark übertrieben, wie Faktenchecks mehrfach dargelegt haben.
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Links:
Facebook-Post: https://www.facebook.com/anne.borgmann.5/posts/10221673023109027 (archiviert: https://archive.ph/kZVsw)
Kommentar in Lancet: https://www.thelancet.com/journals/lanmic/article/PIIS2666-5247(21)00069-0/fulltext (archiviert: https://archive.ph/J1NJa)
Kommentar in Medicina: https://www.mdpi.com/1648-9144/57/3/199/pdf (archiviert: http://dpaq.de/XGRVS)
Ärzteblatt zu Statistik: https://www.aerzteblatt.de/archiv/46111 (archiviert: https://archive.ph/uaXSu)
Erläuterung Risikokalkulation: https://www.biochemia-medica.com/assets/images/upload/xml_tif/McHugh_ML_-_Risk_reduction_statistics.pdf (archiviert: https://archive.ph/MOohl)
dpa-Faktenchecks zur Sicherheit von Impfstoffen: https://dpa-factchecking.com/germany/210511-99-558490/
https://dpa-factchecking.com/germany/210517-99-630276/
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