Angebliche Impfschäden beruhen auf Daten-Missverständnis

25.02.2021, 12:11 (CET)

In den Tiefen des Internets versteckte Schriftstücke enthalten nach Ansicht mancher Menschen brisante Informationen, von denen niemand erfahren soll. In verschiedenen Facebook-Postings in Luxemburg wird unter Verweis auf eine in der breiten Öffentlichkeit bisher weitgehend unbekannte EU-Datenbank behauptet, es habe schon 259 schwere Impfschäden mit dem Biontech/Pfizer-Impfstoff im Großherzogtum gegeben. (hier archiviert)

BEWERTUNG: Die Behauptungen über angeblich schwere Impfschäden in Luxemburg beruhen offenkundig auf Missverständnissen über die in der Datenbank enthaltenen Zahlen. Die Datenbank enthält keine Angaben zu schweren Impfschäden.

FAKTEN: In Facebook-Posts heißt es unter Bezug auf eine «Europäische Datenbank gemeldeter Verdachtsfälle von Arzneimittelnebenwirkungen», es habe 259 schwere Impfschäden mit dem Biontech/Pfizer-Impfstoff in Luxemburg gegeben. Zugleich wird rhetorisch gefragt, ob man darüber in luxemburgischen Medien jemals etwas gelesen oder gehört habe.

Die von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) geschaffene Datenbank beinhaltet, wie der Name vermuten lässt, Zahlen über «gemeldete Verdachtsfälle von Arzneimittelnebenwirkungen». Es handelt sich also weder um nachgewiesene Fälle von Nebenwirkungen noch um Fälle schwerer Impfschäden.

Schon auf der Startseite der Datenbank weist die EMA darauf hin, es gehe um «medizinische Ereignisse, die im Rahmen der Anwendung eines Arzneimittels beobachtet wurden, die aber nicht notwendigerweise mit dem Arzneimittel in Zusammenhang stehen oder von ihm verursacht wurden».

Weiter heißt es: «Angaben zu Verdachtsfällen von Nebenwirkungen dürfen nicht so verstanden werden, als hätte das Arzneimittel oder der Wirkstoff die beobachtete Wirkung verursacht oder als sei das Arzneimittel oder der Wirkstoff nicht sicher in der Anwendung.» Ziel der Datenbank sei lediglich die Herstellung von Transparenz.

Verdachtsfälle können bei dieser Datenbank nicht nur von Medizinern oder aus Krankenhäusern, sondern auch von jedem Patienten, der sich beispielsweise nach einer Impfung unwohl fühlt, gemeldet werden.

Die Datenbank enthält in 26 europäischen Sprachen eine Art Gebrauchsanweisung, in der die Herkunft und die Bedeutung der Daten erläutert wird. Zudem gibt es ein gesondertes Dokument in englischer Sprache ebenfalls als Gebrauchsanleitung

Die Datenbank umfasst (Stand 23.2.2021) insgesamt 71 060 Meldungen von Verdachtsfällen von Nebenwirkungen des Impfstoffs Tozinameran. Mit diesem Namen wird der Impfstoff von Biontech/Pfizer amtlich bezeichnet. Dabei sind die Meldungen über die Verdachtsfälle unter anderem auch nach Ländern aufgeschlüsselt. Italien führt die Liste mit knapp 26 000 Fällen mit weitem Abstand an. Frankreich liegt auf Platz 2 mit 5460 Fällen. Deutschland rangiert mit 2853 Fällen nach Spanien und den Niederlanden auf dem fünften Platz. Für Luxemburg sind 259 Fälle ausgewiesen.

Dabei handelt es sich jedoch nicht wie behauptet um «schwere Impfschäden». Die Datenbank enthält, wie auf der Webseite vermerkt ist, Verdachtsfälle von «schwerwiegenden», aber auch von «nicht schwerwiegenden» Nebenwirkungen. Details darüber sind in der Statistik über Nebenwirkungsgruppen (Reaction Groups) enthalten. Dort ist aufgelistet, welche Symptome verzeichnet wurden. Dabei wird jeweils zwischen schwerwiegenden und nicht schwerwiegenden Fällen unterschieden.

Die Zahl der gemeldeten Symptome oder Beschwerden ist deutlich höher als die Zahl von gut 71 000 Fällen, weil jeder Fall in der Regel mit mehreren Symptomen/Reaktionen verbunden ist. Gut 110 000 Nebenwirkungen wurden in den jeweiligen Meldungen als «nicht schwerwiegend» klassifiziert, 54 309 als schwerwiegend. Anders ausgedrückt: Im Durchschnitt waren zwei Drittel der gemeldeten Reaktionen nicht schwerwiegend, ein Drittel war schwerwiegend. Falls man diesen Wert auf die 259 Luxemburger Fälle anwenden wollte, so blieben rein rechnerisch noch 86 als schwerwiegend übrig.

Tatsächlich aber handelt es sich bei den 259 Fällen nicht um «schwere Impfschäden», sondern um Verdachtsfälle von schweren und weniger schweren Nebenwirkungen. Die Aufnahme eines Verdachtsfalls bedeutet nach Angaben der EMA nicht, dass es tatsächlich einen «gesicherten Zusammenhang» zwischen einer einer Arznei oder einem Wirkstoff und einer Nebenwirkung handele. Die Nebenwirkung könne auch von anderen Faktoren ausgelöst werden, beispielsweise von der Erkrankung selbst oder aufgrund einer Wechselwirkung mit anderen Medikamenten, die ein Patient einnimmt.

Die Datenbank macht keine Angaben dazu, wie viele der Verdachtsfälle sich bei späteren Nachprüfungen als tatsächliche Nebenwirkungen des Impfstoffs erwiesen haben. Alle Arzneimittel könnten Nebenwirkungen verursachen, betont die EMA auf der Webseite der Datenbank. Wichtig sei, «dass die meisten Patienten Arzneimittel einnehmen, ohne dass bei ihnen Nebenwirkungen auftreten».

---

Links:

Facebook-Post: https://www.facebook.com/patricia.freres.7/posts/3826469124139142 (archiviert: https://perma.cc/266E-LJA2)

Enthaltene Abbildung 1: https://perma.cc/9MEG-UDYN

Enthaltene Abbildung 2: https://perma.cc/4GGG-NM2Y

Datenbank der EMA: http://www.adrreports.eu/de/index.html, archiviert: https://web.archive.org/web/20210224142158/http://www.adrreports.eu/de/index.html

Datenbank Nutzerhinweise: http://www.adrreports.eu/de/understanding_reports.html (archiviert: https://archive.vn/ClzhU)

Gebrauchsanleitung Datenbank: http://www.adrreports.eu/docs/Web%20report%20user%20guide%20EN.pdf (archiviert: http://dpaq.de/lcUpP)

---

Kontakt zum dpa-Faktencheckteam: factcheck-luxembourg@dpa.com