AfD-Politiker übertreibt
Steuern und Abgaben bei gut 50 Prozent, nicht 75 Prozent
15.4.2025, 18:24 (CEST), letztes Update: 23.4.2025, 10:42 (CEST)
«75 Prozent Ihres Einkommens zahlen Sie an Steuern in Deutschland.» Mit dieser Aussage eröffnet der AfD-Bundestagsabgeordnete Marc Bernhard den Ausschnitt aus einer Rede über die seiner Meinung nach zu hohe Steuerlast in Deutschland. «Sie arbeiten mindestens mal bis Oktober nur für die Regierung», behauptet der Rechtsanwalt aus Baden-Württemberg Ende März 2025. Allein: Den Tatsachen entspricht das nicht.
Bewertung
Falsch. Selbst wenn neben Lohnsteuer und Sozialabgaben weitere Kosten wie Mehrwertsteuer oder Grundsteuer hinzugerechnet werden, gehen keine 75, sondern knapp über 50 Prozent des Einkommens an den Staat. Für das Geld bekommen Steuerzahler aber auch Gegenleistungen, um die sie sich nicht allein auf Privatkosten kümmern müssen.
Fakten
Was meint Bernhard mit den «75 Prozent» denn nun genau? In dieser Sache bleibt er nämlich alles andere als eindeutig. Mal spricht er (im Video) nur von «Steuern», mal (im zughörigen Post) von «alle[n] Steuern und Abgaben zusammengerechnet». In einem Schreiben an die Deutsche Presse-Agentur (dpa) vom 16. April wiederum argumentiert er mit einer «Gesamtbelastung», die «direkte und indirekte Steuern sowie sonstige Abgaben und Zwangsgebühren» beinhalte. Doch auch bei dieser dritten, größtmöglichen Menge kommt man nicht auf 75 Prozent des Einkommens, die an den Staat gehen.
Steuerzahlerbund: Einkommen ab 11. Juli ins eigene Portemonnaie
Der Bund der Steuerzahler (BdSt) muss es eigentlich wissen. Der Verband setzt sich eigenen Angaben zufolge seit seiner Gründung 1949 unter anderem dafür ein, Steuern und Abgaben zu senken - und kritisiert dementsprechend zu hohe Beiträge.
Auf der Seite des BdSt ist nirgendwo etwas über eine Steuer- und Abgabenlast zu finden, die angeblich bis in den Herbst eines Jahres reicht. Der Verband legt jährlich den sogenannten «Steuerzahlergedenktag» fest, ab dem nach eigenen Angaben die Bürger «dann wieder für ihr eigenes Portemonnaie» arbeiten. 2024 fiel der Termin auf den 11. Juli - und nicht auf Oktober.
Das gesamte Einkommen, das der Durchschnitt der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Jahr 2024 vor dem 11. Juli erwirtschaftet habe, sei – rein rechnerisch – in Form von Steuern und Abgaben an öffentliche Kassen abgeführt worden, so der BdSt. «Von jedem verdienten Euro [gehen] 52,6 Cent an den Staat – nur 47,4 Cent bleiben zur freien Verfügung.»
Und was zählt der Verband zu «Steuern und Abgaben»? Genau dasselbe, das AfD-Mann Bernhard als «direkte und indirekte Steuern sowie sonstige Abgaben und Zwangsgebühren» beschreibt, nämlich:
- Sozialabgaben (wie Kranken- und Pflegeversicherung, Renten- und Arbeitslosenversicherung)
- Lohn- und Einkommensteuer (der Spitzensteuersatz liegt hier bei 42 Prozent)
- Umsatzsteuer (auch Mehrwertsteuer genannt, die beim Einkauf auf Produkte aufgeschlagen wird)
- Energiesteuern inklusive CO2-Abgabe
- gegebenenfalls weitere Steuern wie Grundsteuer oder Kraftfahrzeugsteuer
- Rundfunkbeitrag
Je nach Haushaltskonstellationen kann die Steuerlast unterschiedlich sein: Von Singles gehen nach BdSt-Angaben 53,6 Cent von 1 Euro an den Staat, von Mehr-Personen-Haushalten 52,3 Cent.
Auch in OECD-Studie: ein Single zahlt um die 50 Prozent
Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) berechnet die Belastung durch Steuern und Abgaben in ihren Mitgliedsstaaten - und erreicht für Deutschland bei Weitem keine 75 Prozent.
Nach Ergebnissen einer Vergleichsstudie gehört die Bundesrepublik tatsächlich zu den Ländern mit der höchsten Abgabenlast. Die OECD errechnet für einen alleinstehenden Durchschnittsverdiener hierzulande einen Wert von 52,2 Prozent (inklusive Mehrwertsteuer) im Jahr 2023.
Auch hier gibt es Unterschiede durch Lebenskonstellationen: Ohne Mehrwertsteuer berechnet die OECD (S. 335/336) für Singles mit einem durchschnittlichen Einkommen eine Abgabenlast von 47,9 Prozent, für ein Einverdiener-Ehepaar mit zwei Kindern von 33,1 Prozent.
Steuern und Abgaben «nur für die Regierung»?
Dass ein nicht geringer Teil vom Einkommen abgezogen wird, wurmt sicherlich den einen oder die andere. Aber dass dieses Geld - wie AfD-Politiker Bernhard in den Raum stellt - allein der Regierung zugute käme («Sie arbeiten mindestens mal bis Oktober nur für die Regierung»), ist völlig abwegig.
Erstens werden Steuern nicht ausschließlich auf Bundesebene erhoben. Auch die Bundesländer und Gemeinden erhalten bestimmte Steuereinnahmen.
Und zweitens werden Steuern genutzt, um gemeinnützige Aufgaben zu erfüllen. So stellt der Staat Polizei, Bundeswehr und Justiz für die Sicherheit zur Verfügung, baut Straßen, Brücken oder Gleise. Ebenso werden etwa Schulen, Universitäten, Bibliotheken und Krankenhäuser finanziert.
Über die Sozialabgaben wiederum wird unter anderem sichergestellt, dass man im Alter eine Rente erhält, sich bei Krankheit Mediziner und Medizinerinnen kümmern oder im Falle von Arbeitslosigkeit weiterhin Geld für den Lebensunterhalt und die Wohnung vorhanden ist.
Mit Steuern und Abgaben sind also Leistungen verbunden, die der Staat übernimmt und für die Bürgerinnen und Bürger daher nicht ausschließlich privat zahlen müssen.
Worin Bernhard noch falsch liegt
Der AfD-Politiker stellt in seinem Video noch weitere Behauptungen auf, die einer Überprüfung nicht standhalten.
1. So verbreitet er etwa, die insgesamt fast eine Billion an Steuereinnahmen pro Jahr (der Wert stimmt in etwa) verteile die aktuelle Bundesregierung «in der ganzen Welt und finanziert ihre Ideologieprojekte damit».
Das stimmt überhaupt nicht. Geld, das Deutschland über verschiedene Bundesministerien für die Entwicklungszusammenarbeit mit anderen Ländern ausgibt, fasst die OECD in der sogenannten ODA-Quote («Official Development Assistance») zusammen. Vorläufigen Zahlen zufolge lag dieser Wert für die Bundesrepublik 2024 meilenweit von einer Billion Euro entfernt, nämlich bei 32,4 Milliarden Euro.
2. Auch ob im vergangenen Jahr 260.000 «gut ausgebildete einheimische Menschen» Deutschland den Rücken gekehrt haben, ist lückenhaft.
Zwar stimmt nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2024, dass 276.161 Deutsche die Bundesrepublik verlassen hätten (2023: 265.035). Doch Bernhard unterschlägt, dass andererseits 2024 auch 188.982 Deutsche (wieder) ins Inland zugezogen sind (2023: 191.356).
Warum und mit welchen Qualifikationen Menschen ins Ausland abwandern, kann nach Angaben des baden-württembergischen Statistikamtes nicht mithilfe der amtlichen Wanderungsstatistik beantwortet werden. Eine Idee über die Qualifikation deutscher Auswanderer kann aber eine Studie von 2021 geben. Demnach (S. 195) verfügen nur 10 Prozent derjenigen, die erstmals aus Deutschland auswandern, über keinen Schul- oder Berufsabschluss. 62 Prozent hätten einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss.
Ein ähnliches Verhältnis zwischen Zu- und Abwanderung ihrer Staatsbürger weisen übrigens zum Beispiel auch die Schweiz (2024: 30.100 Wegzüge, 22.600 Zuzüge) und Österreich (2023, Tabelle A6: 18.651 Wegzüge, 13.391 Zuzüge) auf.
Hinweis
Eine erste Version des Textes vom 15. April 2025 wurde durchgängig überarbeitet und Bernhards Argumente aus seiner Mail an dpa eingearbeitet. Hinzugefügt wurde der letzte Abschnitt mit der Untersuchung weiterer Bernhard-Behauptungen.
(Stand: 23.04.2025)
Links
Bundestags-Profil von Marc Bernhard (archiviert)
X-Beitrag von Marc Bernhard (archiviert)
Bernhard-Beitrag auf eigener Homepage (archiviert)
Bund der Steuerzahler über Steuerzahlergedenktag 2024 (archiviert)
Bund der Steuerzahler über sich selbst (archiviert)
Grafik der Universität Duisburg-Essen (archiviert)
Wiss. Dienste des Bundestags zu Steuersätzen (archiviert)
OECD-Studie zur Abgabenlast ihrer Mitgliedsstaaten (archiviert)
OECD-Studie ganzer Bericht (archiviert)
Bundesfinanzministerium über Steuerarten (archiviert)
«Spiegel»-Artikel über Steuern und Abgaben (archiviert)
Steuereinnahmen Deutschland 2024 (archiviert)
Informationen zur ODA-Quote (archiviert)
OECD über ODA-Zahlen 2024 (archiviert)
Statistisches Bundesamt über Wanderungssaldo (archiviert)
Statistikamt Baden-Württemberg über Wanderungsstatistiken (archiviert)
Studie «The Global Lives of German Migrants» von 2021 (archiviert)
Schweizer Bundesamt für Statistik über Wanderungssaldo (archiviert)
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