Corona-Pandemie
Paul-Ehrlich-Institut verzeichnete Verdachtsfälle, keine bestätigten Impfschäden
16.4.2025, 15:26 (CEST)
Mehr als vier Jahre nach den ersten Schutzimpfungen gegen das Coronavirus ist die Pandemie zwar vorbei, doch irreführende Behauptungen zum Beispiel über die Impfstoffe halten sich hartnäckig. Ein neues Beispiel ist ein Video auf Youtube mit dem Titel «Über 1 Million Impfschäden bestätigt!»
Das für die Arzneimittelsicherheit zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI) habe entsprechende Informationen lange gekannt, sie aber zurückgehalten. Eine Liste des Instituts sei jedoch «geleakt» worden. Die Zahlenangabe verbreitet sich auch in den sozialen Netzwerken. Aber stimmen der hohe Wert und die weiteren Behauptungen im Video überhaupt?
Bewertung
Die Angaben im Video sind aus mehreren Gründen falsch und in sich nicht schlüssig. Generell gilt: Die Liste des Paul-Ehrlich-Instituts enthält lediglich Verdachtsfälle - keine bestätigten Fälle von Impfkomplikationen, -reaktionen oder -schäden. Die verschiedenen Begriffe werden im Video durcheinander geworfen, obwohl sie unterschiedliche Dinge beschreiben. Die Zahlenangabe «1 Million» wird nicht einheitlich verwendet - und bezogen zum Beispiel auf «Impfschäden» ist sie falsch. Anerkannte Impfschäden werden vom Paul-Ehrlich-Institut gar nicht erfasst. Und auch weitere Behauptungen im Video sind irreführend oder falsch - etwa das angebliche «Leak».
Fakten
In dem Gespräch eines Podcast-Hosts mit zwei Chemieprofessoren werden verschiedene Behauptungen über einen Datensatz des Paul-Ehrlich-Instituts aufgestellt. Die Behörde ist in Deutschland unter anderem für die Überwachung von Impfstoffen zuständig.
Unter anderem heißt es in dem Video und im Text dazu auf Youtube:
- «Über 1 Million Impfschäden bestätigt!»
- «Fast eine Million Fälle von Impfnebenwirkungen, Langzeitschäden und Todesfällen durch die staatlich verordnete Corona-Impfung.»
- «... über 975.000 Einträge von Verdachtsfällen auf Impfschäden bei etwa 350.000 betroffenen beziehungsweise erfassten Personen.»
Die Angaben widersprechen sich also schon innerhalb des Videos. Verschiedene Dinge werden miteinander vermischt oder möglicherweise verwechselt - und insbesondere die Video-Überschrift («Über 1 Million Impfschäden») ist falsch. Das schreibt das Paul-Ehrlich-Institut in einer Antwort auf eine Anfrage der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
Verdachtsfälle sind keine bestätigten Nebenwirkungen
Die Informationen zur Interpretation des Datensatzes finden sich auch auf der Website des PEI. Man muss den Hinweisen sogar zustimmen, ehe man das Excel-Dokument mit den Daten herunterladen kann. Unter anderem betont das PEI, dass es sich in der Liste lediglich um Verdachtsfälle von Nebenwirkungen von Corona-Impfstoffen handelt. «Verdachtsfälle von Nebenwirkungen sind nicht identisch mit erkannten Nebenwirkungen, wie sie in den Produktinformationen des jeweiligen Impfstoffprodukts aufgeführt werden», schreibt das PEI.
Auf verschiedenen Wegen können vermutete Nebenwirkungen oder Impfreaktionen an das Institut gemeldet werden. Hintergrund solcher Meldesysteme, die es auch in anderen Ländern gibt, ist weniger der konkrete Nachweis einzelner kausaler Zusammenhänge, sondern vielmehr die Suche nach statistischen Auffälligkeiten in der Gruppe der Geimpften. Die Meldungen werden dazu mit Zahlen zu vermuteten Krankheits- und Todesfällen abgeglichen, die es den Erwartungen zufolge ohne Impfungen gegeben hätte. Man spricht von einer Observed-versus-Expected-Analyse. Ziel ist es, über eine möglichst breite Datenbasis Auffälligkeiten und Muster einer möglichen Ausbreitung von Symptomen zu erkennen.
Ein Verdachtsfall auf eine Impfnebenwirkung, Komplikation oder sogar einen Impfschaden ist in der Regel also zunächst immer nur ein medizinischer Vorfall, der in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung steht. Ob es einen kausalen Zusammenhang gibt, muss im Einzelfall genauer untersucht werden. Doch im Video wird aus der Gesamtzahl der Einträge in der Liste mitunter eine angebliche Zahl von bestätigten Fällen.
Das PEI weist in seiner Antwort gegenüber dpa darauf hin, dass unter den Einträgen in der Liste auch «übliche harmlose und vorübergehende Reaktionen, wie beispielsweise Rötung/Schwellung an der Einstichstelle, leichte Kopfschmerzen oder erhöhte Temperatur» seien.
Begriffe werden vermengt
Diese Unterscheidung hängt mit einer weiteren Irreführung im Video zusammen. Mal ist pauschal von «Impfschäden», mal synonym von «Impfnebenwirkungen, Langzeitschäden und Todesfällen» die Rede. Doch die verschiedenen Begriffe beschreiben verschiedene Dinge. Das PEI beschreibt sie auf seiner Website. Ein Impfschaden etwa wird im Sozialgesetzbuch definiert und setzt eine individuelle Begutachtung voraus, da es im Falle eines Impfschadens auch einen Anspruch auf Entschädigung beziehungsweise eine Versorgung durch den Staat gibt.
Von den Behörden in Deutschland anerkannte Impfschäden im Zusammenhang mit Corona-Schutzimpfungen gibt es nur sehr wenige. Anfang 2024 berichtete die «Neue Osnabrücker Zeitung» (NOZ) unter Berufung auf die zuständigen Landesbehörden von 467 Fällen. Zur Einordnung gab die «NOZ» die Zahl aller bis April 2023 mindestens einmal gegen Corona geimpften Menschen in Deutschland an: rund 65 Millionen. Der Anteil der Impfschäden ist also sehr gering.
Abgelehnte Anträge auf Entschädigung sind aber immer wieder auch Gegenstand von Gerichtsverfahren. Das PEI schreibt, dass es für die Anerkennung von Impfschäden gar nicht zuständig sei und deshalb auch keine Zahlen dazu habe.
Annähernd korrekt ist der Hinweis im Video, dass es im Datensatz um rund 350.000 erfasste Personen geht. Das PEI spricht bezogen auf die Zahl von Case-IDs, oder anders ausgedrückt: Verdachtsfallmeldungen. Auch wenn doppelte Meldungen denkbar sind, liegt es nahe, Case-IDs mit Einzelpersonen gleichzusetzen. Eine Verdachtsfallmeldung kann aber mehrere Reaktionen umfassen. Deren Gesamtzahl in der Liste liegt bei knapp unter einer Million.
Kein «Leak» bekannt
Völlig unklar ist jedoch, worauf die Behauptung beruht, dass die Liste des PEI «geleakt» worden sei. Im Video heißt es, dass die Gesamtzahl der Reaktionen dem PEI «lange bekannt war, aber bis vor kurzem unter Verschluss gehalten wurde.» Aber über ein Leak, also ein Durchstechen der Daten an die Öffentlichkeit, ist nichts bekannt. Es finden sich zum Beispiel keine Medienberichte über einen solchen Vorfall.
Das PEI schreibt auf dpa-Anfrage: «Diese Behauptung trifft nach Kenntnis des Paul-Ehrlich-Instituts nicht zu. Die Listen im Excel-Format wurden im Paul-Ehrlich-Institut aus der internen Verdachtsfalldatenbank erstellt und seitens des Paul-Ehrlich-Instituts veröffentlicht. Schon seit 2023 waren diese Listen im PDF-Format auf der Website verfügbar. Anders als im Video behauptet hat das Paul-Ehrlich-Institut die Listen also nicht »unter Verschluss gehalten«.» Im Excel-Format wurden die Daten demnach im November 2024 bereitgestellt. Das PEI begründet die Umstellung auf das Excel-Format mit der besseren Recherchierbarkeit der Daten.
Auf Anfrage wehrt sich das PEI auch gegen den Vorwurf im Video, wonach das Institut mit einem Anstieg der Verdachtsmeldungen überfordert gewesen sei (Wortlaut: «Das haben die nicht mehr geschafft.»). Während der Impfkampagne sei zum Beispiel Personal aus anderen Bereichen zur Überwachung der Corona-Impfstoffe herangezogen worden. Auch sei zusätzliches Personal eingestellt worden. Man habe Überlastungen «vollständig und zeitnah abgewendet».
Irreführende Hochrechnung von Verdachtszahlen
Im Video wird auch auf die SafeVac-App des PEI hingewiesen, mit der Daten zu möglichen Nebenwirkungen erhoben werden. Doch Vorsicht: Dem PEI zufolge sind Daten aus diesem Meldesystem nicht in dem umfangreichen Excel-Datensatz enthalten. «Bei der SafeVac 2.0-Studie handelt es sich um eine prospektive Beobachtungsstudie zur Sicherheit und Verträglichkeit der pandemischen Covid-19-Impfstoffe, die nicht Teil des Spontanmeldesystems ist», schreibt das Institut. Die Auswertung der App-Daten sei noch nicht erfolgt.
Im Zusammenhang mit der App wird im Video korrekt aus einem Sicherheitsbericht des PEI aus dem Jahr 2021 zitiert: 0,39 Prozent der Verdachtsmeldungen über die App betrafen demnach mögliche schwerwiegende Reaktionen auf eine Corona-Impfung. Die Zahl wird beispielhaft ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl und Impfquote im Land Berlin gesetzt. Da die Zahl der gemeldeten schwerwiegenden Reaktionen aber medizinisch nicht validiert werden könne, schreibt das PEI: «Eine Hochrechnung wie sie im Video gemacht wird, ist somit weder aussagekräftig noch sachgerecht.»
Und auch die grundsätzliche Kritik am Observed-versus-Expected-Verfahren weist das Institut auf dpa-Anfrage zurück. Angeblich, so heißt es im Video sinngemäß, würden dabei nicht einmal viele zusätzliche Todesfälle auffallen. Das hätten zum Beispiel Angaben des PEI in einem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gezeigt.
Gericht sieht keinen Hinweis auf Manipulation
Doch das Gericht stellte im Jahr 2022 im Zusammenhang mit der Corona-Impfpflicht für Bundeswehrsoldaten fest, dass «der Vorwurf der Ungeeignetheit des Observed-versus-Expected-Analyseverfahrens zur Detektion von Impfnebenwirkungen» sich nicht bestätigt habe. «Ebenso wenig kann davon ausgegangen werden, dass das Paul-Ehrlich-Institut dieses Verfahren so anwendet, dass möglichst keine Impfnebenwirkungen aufgedeckt werden», schreibt das Gericht in seinem Beschluss.
Bleibt noch der Vorwurf, dass das PEI Daten zu Todesfällen «geschönt» habe. Aus etwas mehr als 3000 möglichen Todesfällen im Zusammenhang mit der Impfung, die 2022 in einem Sicherheitsbericht erwähnt wurden, seien im ausführlichen Datensatz nur noch 1100 aufgeführt, heißt es im Video.
Das PEI teilt mit, dass die Angabe «Tod» nicht alle Verdachtsfälle mit tödlichem Ausgang umfasse. «Tod» wird nur dann vermerkt, wenn keine Ursache wie ein Herzinfarkt bekannt ist. «Sollte die Ursache des Versterbens bekannt sein (z. B. Herzinfarkt) und diese wird als potenzielle Nebenwirkung eingestuft, wird in der Verdachtsfallmeldung lediglich die aufgetretene Reaktion als potenzielle Nebenwirkung gelistet (also im Beispiel der Herzinfarkt, nicht der Tod)», schreibt das PEI. Zudem können sich Meldungen mit der Zeit durch nachträgliche Informationen verändern sowie Doppelmeldungen erkannt und zu einem Fall zusammengeführt werden, so das PEI.
(Stand: 16.4.2025)
Links
Informationen des PEI zum Datensatz (archiviert)
Informationen zu Observed-versus-Expected-Analysen (archiviert)
«NOZ»-Recherche zu anerkannten Impfschäden (archiviert)
Google-Suche nach angeblichem Leak (archiviert)
PEI-Sicherheitsbericht Dezember 2021 (archiviert)
Bundesverwaltungsgericht zur Impfpflicht für Soldaten (archiviert)
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