Wie rechnet ChatGPT?
Irreführende Liste mit Milliardensummen ohne zeitlichen Bezug
9.10.2024, 17:14 (CEST), letztes Update: 10.10.2024, 10:28 (CEST)
Zahlungen ins Ausland, die angeblich zulasten der Sozialpolitik in Deutschland gehen, werden im Netz immer wieder diskutiert. Auch der KI-Bot ChatGPT soll so ein Ungleichgewicht aufzeigen. In den sozialen Medien verbreitet sich ein Screenshot, der anscheinend einen Dialog mit dem Chatbot zeigt. ChatGPT soll errechnet haben, dass Deutschland eine Summe von mehr als 100 Milliarden Euro an den Staat Israel gezahlt habe. Deutlich weniger Geld soll der Grafik nach ausreichen, um Wohnungslosigkeit und Kinderarmut in Deutschland zu beseitigen sowie eine «Bildungslücke» im deutschen Bildungssystem zu schließen.
Bewertung
Die Zahlen zu notwendigen Budgets in der Sozialpolitik sind zu niedrig angesetzt. Allen Zahlen fehlt zudem der Kontext. Ob es sich tatsächlich um einen Dialog mit dem Chatbot handelt, ist unklar.
Fakten
ChatGPT nach Zahlen zu fragen, führt mitunter zu falschen Ergebnissen. Statt zu rechnen, generiert das Sprachmodell auf Basis von verfügbaren Daten eine möglichst wahrscheinliche Antwort. Da die Fragestellungen im Dialog sehr weit gefasst und die Antworten sehr knapp sind, lässt sich nicht nachvollziehen, welche Daten das Sprachmodell herangezogen haben könnte.
Wie sind die Zahlen im Einzelnen zu bewerten?
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Deutschland dem Staat Israel drei Milliarden D-Mark (umgerechnet rund 1,5 Milliarden Euro) an Reparationszahlungen überwiesen. Im jährlichen Bundeshaushalt sind außerdem sogenannte Wiedergutmachungszahlungen vorgesehen. Bis Ende 2022 wurden laut Auswärtigem Amt insgesamt 82 Milliarden Euro gezahlt.
Renten- und Pflegekosten für Opfer des Nationalsozialismus, von denen viele in Israel leben, werden nach Angaben von 2022 mit jährlich rund 1,44 Milliarden Euro bezuschusst. Genauer schlüsselt das Auswärtige Amt die Zahlen nicht auf.
Addiert man diese Zahlungen, ergeben sich seit dem Luxemburger Abkommen, mit dem die Wiedergutmachungen 1952 festgelegt wurden, insgesamt mehr als 100 Milliarden Euro - in mehr als 70 Jahren. Aus dem mutmaßlichen Dialog mit ChatGPT geht allerdings nicht hervor, auf welchen Zeitraum sich die Zahl beziehen soll.
Ein ähnliches Problem zeigt sich bei den Zahlen, die ChatGPT für die in Deutschland notwendigen Budgets errechnet haben soll: Die Antworten bieten viel Spielraum für Interpretationen, das eine zeitliche Einordnung fehlt.
Mehr als 20 Milliarden pro Jahr fürs Wohnen
In dem Dialog soll ChatGPT errechnet haben, dass der Bund neun Milliarden Euro ausgeben müsste, um «das Obdachlosenproblem in Deutschland zu beheben». Laut Statistischem Bundesamt waren zum Stichtag 31. Januar 2024 rund 439.500 wohnungslose Menschen in Sammelunterkünften oder anderen Einrichtungen untergebracht. Hinzu kommt eine Dunkelziffer obdachloser Menschen, die ohne Unterkunft auf der Straße leben. Auch sogenannte verdeckte Wohnungslosigkeit wird in der Statistik nicht erfasst. Sie umfasst Menschen, die keine eigene Wohnung haben, aber beispielsweise bei Bekannten übernachten.
Wie viel Geld der Staat ausgeben müsste, um den Betroffenen dauerhaft zu helfen, lässt sich schwer berechnen. Laut einer Studie des Bündnisses «Soziales Wohnen» hat Deutschland allein 2023 rund 20 Milliarden Euro investiert, um Menschen beim Wohnen zu unterstützen. Darin enthalten sind Mietzahlungen, etwa über die Jobcenter der Agentur für Arbeit, und das Wohngeld.
Für sozialen Wohnungsbau will der Bund von 2022 bis 2027 nach eigenen Angaben rund 18 Milliarden Euro investieren. Dennoch gibt es nach Angaben der Forscherinnen und Forscher einen großen Mangel an Sozialwohnungen.
Leistungen gegen Kinderarmut
Um «Kinderarmut in Deutschland zu beheben», soll der Grafik zufolge eine Summe von zwölf Milliarden Euro ausreichen. Diese Zahl könnte sich auf die Kindergrundsicherung beziehen, die 2025 starten soll. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) hatte dafür ursprünglich ein jährliches Budget von zwölf Milliarden Euro veranschlagt. Zum Start muss das Ministerium nun aber mit 2,4 Milliarden Euro pro Jahr auskommen. Die Diakonie hatte 2023 sogar mindestens 20 Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung gefordert.
In Deutschland waren 2023 laut Statistischem Bundesamt etwa 2,1 Millionen Kinder und Jugendliche armutsgefährdet. Das kann etwa bedeuten, dass sich ihre Familien keine gesunde Ernährung leisten können und sie sozial ausgegrenzt werden. An Kindergeld und -zuschlag zahlt der Bund mit Stand 2024 jährlich 2,97 Milliarden Euro. Ein Großteil davon (knapp 2,6 Milliarden Euro) fließt in den Kinderzuschlag für bedürftige Familien.
Staatliche Ausgaben für Bildung
Unklar bleibt in der Grafik auch, was ChatGPT mutmaßlich unter der «Bildungslücke» versteht. Um eine solche Lücke in Deutschland zu schließen, sollen dem Dialog zufolge 20 Milliarden Euro reichen. Im Bundeshaushalt für das Jahr 2024 sind insgesamt 21 Milliarden Euro für Bildung und Forschung veranschlagt. Rund 1,52 Milliarden Euro daraus werden in das Bafög für Studierende investiert. Die Länder erhalten 1,25 Milliarden Euro, die in die digitale Infrastruktur an Schulen fließen sollen.
(Stand: 9.10.2024)
Berichtigung
Seit 1952 sind mehr als 70 Jahre vergangen. In einer früheren Version dieses Artikels hieß es mehr als 50 Jahre.
Links
Auswärtiges Amt zu Zahlungen an Israel (archiviert)
Facebook-Post (archiviert; Bild archiviert)
Haus der Geschichte zu Luxemburger Abkommen (archiviert)
Statistisches Bundesamt zu Wohnungslosigkeit (archiviert)
PM zur Studie «Soziales Wohnen» (archiviert)
Nationaler Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit (archiviert)
Bundesfamilienministerium zur Kindergrundsicherung (archiviert)
Statistisches Bundesamt zu Armutsgefährdung bei Kindern (archiviert)
Bundestag zum Familien-Etat 2024 (archiviert)
Diakonie zu Kinderarmut 2023 (archiviert)
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