Täglich zwei ermordete Frauen?
Desinformation über tödliche Sexualstraftaten Geflüchteter
27.6.2024, 19:00 (CEST)
Kriminalität, Zuwanderung, sexuelle Gewalt: Mit diesen drei Schlagwörtern kann man die Wutpegelstände häufig recht gut nach oben schrauben. Doch wer seine Empörung an Zahlen der Kriminalstatistik festmacht, sollte einige Fallstricke beachten - und sich nicht verheddern wie jüngst das Blog «reitschuster.de». Denn dort wird Ende Mai 2024 tatsächlich behauptet, jeden Tag gebe es «mehr als zwei Todesopfer» nach sexuellen Übergriffen durch Geflüchtete. Doch das ist völlig jenseits der Realität.
Bewertung
Der Kriminalstatistik zufolge gab es im ganzen Jahr 2023 genau zwei Opfer einer Straftat in der Kategorie «Sexuelle Übergriffe, sexuelle Nötigungen und Vergewaltigungen mit Todesfolge» in Deutschland. Als Tatverdächtige werden zwei Männer geführt - ein Deutscher und ein Nichtdeutscher.
Fakten
In dem Artikel auf dem Blog «reitschuster.de» geht es allgemein über die vermeintliche Welle an sexuellen Übergriffen durch Flüchtlinge in den vergangenen Jahren. Als Grundlage werden offizielle Zahlen der Bundesregierung von Mitte Mai 2024, die sich auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) bezieht, herangezogen. Doch der Autor bringt hier etwas ganz gewaltig durcheinander - und spricht von Toten, die es gar nicht gibt.
Was der «reitschuster.de»-Autor Falsches behauptet
Für «erschreckend» hält der Autor des Artikels besonders die Zahl der Todesfälle durch Zuwanderer-Kriminalität: «So starben allein 2023 insgesamt 1125 Frauen in Folge einer Vergewaltigung, einer sexuellen Nötigung oder eines besonders schweren sexuellen Übergriffs durch Asyl-Zuwanderer.» Mit dieser Zahl seien «nur die aufgeklärten Fälle berücksichtigt», die Dunkelziffer dürfte «größer sein».
Allein die Aussage, dass die Dunkelziffer der getöteten Frauen «größer sein dürfte», zeugt von wenig Kenntnis der Polizeiarbeit. Denn gerade bei Gewalttaten gegen das Leben kennen die Beamten in der Regel die Opfer. Es gibt einfach keine nennenswerte - also vierstellige - Anzahl an Frauenleichen, die jedes Jahr unentdeckt irgendwo in Deutschland nach einer Vergewaltigung versteckt liegen.
Warum die Zahlen gar nicht richtig sein können
1125 ermordete Frauen nach einer Sexualstraftat durch Zuwanderer allein im Jahr 2023? Würde das tatsächlich stimmen, dann läge die Zahl aller in Deutschland getöteten Menschen noch um ein Vielfaches höher.
Denn daneben gibt es ja auch Frauen, die nicht von Zuwanderern umgebracht werden, sondern von deutschen Sexualstraftätern oder anderen Ausländern (wie etwa Touristen oder Studierenden). Oder Frauen, die ohne jeglichen sexuellen Hintergrund den Tod durch fremde Hand finden. Oder schlicht: alle Männer, die getötet werden.
Schon ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt aber: Für 2023 verzeichnet die PKS (S. 44) allgemein in der Straftatengruppe «Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen» 676 Opfer einer vollendeten Tat. Es ist also schlicht unmöglich, dass 1125 Frauen von Zuwanderern ermordet wurden.
So sieht es mit Todesopfern nach Sexualstraftaten wirklich aus
Sexuelle Übergriffe, sexuelle Nötigungen und Vergewaltigungen mit Todesfolge regelt in Deutschland Paragraf 178 des Strafgesetzbuches (StGB). Die Kriminalstatistik gibt für 2023 genau zwei Opfer einer solchen Tat an (Download).
Auf der Seite der Tatverdächtigen hält die Polizei zugleich zwei Männer für eine Straftat nach Paragraf 178 StGB fest - einen Deutschen und einen Afghanen (Download).
Grundsätzlich ist zu bedenken, dass die PKS keinerlei Aussage darüber trifft, ob eine Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde der Auffassung der Polizei etwa in Bezug auf die Tatverdächtigen oder die mutmaßlich begangene Tat folgt. Auch gibt diese Statistik keine Auskunft, ob die Tatverdächtigen später von einem Gericht schuldig gesprochen werden oder nicht.
Wie der «reitschuster.de»-Autor wohl auf die falschen Zahlen kommt
Die Zahl 1125 ist tatsächlich im Material der Bundesregierung zu finden. Dort heißt es (S. 2): «Im Jahr 2023 wurden bei den aufgeklärten Fällen mit mindestens einem tatverdächtigen Zuwanderer beim PKS-Schlüssel 111000 "Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Übergriff im besonders schweren Fall einschl. mit Todesfolge §§ 177, 178 StGB" insgesamt 1125 weibliche Opfer erfasst.»
Die Zahl 1125 bezieht sich also auf alle Straftaten, die sowohl in Paragraf 178 als auch in 177 StGB festgehalten sind. Unter Paragraf 177 StGB fallen alle Taten, in denen ein Täter oder eine Täterin gegen den erkennbaren Willen des Opfers sexuelle Handlungen vornimmt. Darunter kann schon das überraschende Begrapschen eines Körperteils fallen.
Wie auch «Nius» sich verheddert hat
Auch «Nius», das Onlineportal um den früheren «Bild»-Chefredakteur Julian Reichelt, hatte sich des Themas angenommen - und in einer ersten Version seines Artikels über Sexualdelikte Geflüchteter unwahr geschrieben: «Seit 2017 werden jährlich mehr als 1000 Frauen Opfer eines Sexualdeliktes durch tatverdächtige Asyl-Zuwanderer, bei denen sie ermordet werden.»
Auch Nachfrage von dpa-Faktencheck vom 24. Juni gab die «Nius»-Autorin an, es handle sich um eine sprachliche Ungenauigkeit. Mittlerweile wurde an der entsprechenden Artikelstelle der Zusatz «bei denen sie ermordet werden» gestrichen. Im zugehörigen Transparenzhinweis heißt es: Unter den 1125 weiblichen Opfern gebe es auch Fälle, bei denen Frauen aufgrund ihrer Verletzungen zu Tode gekommen seien.
(Stand: 27.06.2024)
Links
Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage der Unionsfraktion vom 14.5.2024 (archiviert)
Kleine Anfrage der Unionsfraktion vom 26.4.2024 (archiviert)
Polizeiliche Kriminalstatistik 2023 Bericht (archiviert)
PKS-Opfertabelle 2023 als Download (archiviert)
PKS-Tatverdächtigentabelle nach Staatsangehörigkeit 2023 als Download (archiviert)
Paragraf 177 StGB (archiviert)
Paragraf 178 StGB (archiviert)
«Nius»-Artikel zum Thema vom 30.5.2024 (archviviert am 30.5.2024, archiviert am 25.6.2024)
Über dpa-Faktenchecks
Dieser Faktencheck wurde im Rahmen des Facebook/Meta-Programms für unabhängige Faktenprüfung erstellt. Ausführliche Informationen zu diesem Programm finden Sie hier.
Erläuterungen von Facebook/Meta zum Umgang mit Konten, die Falschinformationen verbreiten, finden Sie hier.
Wenn Sie inhaltliche Einwände oder Anmerkungen haben, schicken Sie diese bitte mit einem Link zu dem betroffenen Facebook-Post an faktencheck@dpa.com. Nutzen Sie hierfür bitte die entsprechenden Vorlagen. Hinweise zu Einsprüchen finden Sie hier.
Schon gewusst?
Wenn Sie Zweifel an einer Nachricht, einer Behauptung, einem Bild oder einem Video haben, können Sie den dpa-Faktencheck auch per WhatsApp kontaktieren. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.