Urteil falsch interpretiert

Wählen ist keine Straftat

11.6.2024, 14:34 (CEST)

Schon öfters wurde ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012 missverstanden. Im aktuellen Fall heißt es sogar kurioserweise, das Urteil habe den Akt des Wählens zur Straftat gemacht.

Freie unabhängige Wahlen sind das Fundament einer Demokratie und ein Grundrecht - und trotzdem verbreitet sich im Internet die Behauptung, wer dieses Grundrechte in Deutschland ausübe, begehe eine Straftat. Die angebliche Begründung dafür soll eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2012 sein. Damals habe das Gericht das Bundeswahlgesetz für grundgesetzwidrig erklärt - weshalb jeder Wähler nun eine «Straftat nach §27 StGB» begehe und «Beihilfe» leiste, so der Wortlaut in einem Sharepic.

Bewertung

Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2012 eine damals noch nicht angewandte Fassung des Bundeswahlgesetzes für nichtig erklärt. Die Entscheidung hat keinesfalls zur Folge, dass Wählen eine Straftat ist.

Fakten

Das Bundesverfassungsgericht hat seinerzeit nicht das Bundeswahlgesetz an sich verworfen. Das Gericht bemängelte lediglich eine damals gerade beschlossene Reform. Seine Stimme in Wahlen abzugeben, ist darum keine Straftat.

Das Urteil wird bei den Falschbehauptungen im Zusammenhang mit der EU-Wahl 2024 gestellt - doch für das Wahlrecht in Europa ist weniger das Bundeswahlgesetz die greifende Norm, vielmehr garantieren andere Normen das Wahlrecht für europaweite Wahlen, etwa auch die Grundrechte-Charta.

Die Wahlrechtsreform, um die es ging, war 2011 beschlossen worden. Das Verfassungsgericht hatte am 25. Juli 2012 das reformierte Bundeswahlgesetz für verfassungswidrig und damit für nichtig erklärt.

«Verfahrensgegenstand waren allein die Regelungen in der Fassung von 2011», teilte ein Pressesprecher des Bundesverfassungsgerichts der Deutschen Presse-Agentur (dpa)im Jahr 2023 mit. Schon damals ging das Urteil mit falscher Interpretation rum. Seinerzeit hieß es, wegen der Entscheidung würden Wahlen ungültig, doch das ist falsch.

Bei der Prüfung des Wahlgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht ging es um Regelungen über die Mandatsverteilung im Deutschen Bundestag. Die Karlsruher Richter beanstandeten vor allem den paradoxen Effekt des «negativen Stimmgewichts». Diese ist eng mit Überhangmandaten verwoben. Solche fallen an, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr dort nach dem Zweitstimmenanteil zustünden.

Die Reform des Bundeswahlgesetz ist nach wie vor in der Mache. Zuletzt hat der Bundestag im März 2023 eine Änderung beschlossen - dagegen haben aber mehrere Institutionen erneut geklagt und das Bundesverfassungsgericht muss wiederum entscheiden, ob die Änderungen mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Anfang Juni 2024 stand diese Entscheidung noch aus.

Die Reform soll ab der nächsten Bundestagswahl 2025 greifen und die Zahl der Abgeordneten von derzeit 736 auf 630 reduzieren. Zentral sind der Wegfall von Überhang- und Ausgleichsmandaten sowie der so genannten Grundmandatsklausel.

(Stand: 11.6.24)

Links

Post (archiviert)

dpa Faktencheck

Deutschlandfunk (archiviert)

Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli 2012 zum Wahlgesetz (archiviert)

Der Spiegel zu negativem Stimmgewicht (archiviert)

dpa-Meldung über Klagen gegen die jüngste Wahlrechtsreform im Juni 2023 (archiviert)

Wesentliche Rechtsgrundlagen für Europawahlen (archiviert)

Wahlrecht (archiviert)

Charta (archiviert)

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