Keine Kastration

Neues Selbstbestimmungsgesetz sorgt für mehr Gleichstellung

13.05.2024, 17:03 (CEST), letztes Update: 13.05.2024, 17:36 (CEST)

Das neue Selbstbestimmungsgesetz vereinfacht Transmenschen die Änderung von Namens- und Geschlechtseinträgen. Medizinische Angleichungen sind nicht Teil des Gesetzes.

Das neue Selbstbestimmungsgesetz soll Menschen in Deutschland einen leichteren Weg bieten, ihren Vornamen und Geschlechtseintrag zu ändern. Doch wird der Beschluss auch von Missverständnissen und Falschbehauptungen begleitet, die in sozialen Medien kursieren. In einem Post auf Threads heißt es, Frauen hätten keine Schutzräume mehr und Männer könnten sich einfach so Zutritt verschaffen. Jugendliche würden «mit Mitteln zur chemischen Kastration ("Pubertätsblocker") verstümmelt» und man dürfe Männer nicht mehr Männer nennen. Doch stimmt das wirklich? Auch hier hilft es, einen genauen Blick auf die Sachlage zu werfen.

Bewertung

Die Behauptungen in dem Threads-Post sind falsch. Das neue Selbstbestimmungsgesetz an sich gefährdet keine Frauenräume, kastriert keine Jugendlichen und bestraft nicht die Nennung wissenschaftlicher Fakten. Die Faktenlage zeichnet hier ein anderes Bild.

Fakten

Der Bundestag hat am 12. April dieses Jahres das Selbstbestimmungsgesetz beschlossen. Zum 1. November soll das Gesetz in Kraft treten. Am 1. August soll schon § 4 SBGG (Anmeldung beim Standesamt) in Kraft treten.

In dem Post auf Threads verbergen sich zu diesem Gesetz mehrere Falschbehauptungen, die im Folgenden genauer untersucht werden.

Auch ohne Namensänderung sind Frauen in Frauenräumen gefährdet

Das Selbstbestimmungsgesetz regelt zunächst einmal, wie Menschen ihren Vornamen und ihren Geschlechtseintrag in Dokumenten und Registern ändern können. Das Gesetz beeinflusst das Strafrecht nicht. Handlungen, die vorher als Gewalttaten strafbar waren, bleiben weiterhin strafbar. Das bedeutet, wenn Menschen anderen Menschen Gewalt antun, können sie unabhängig von ihrem Geschlecht bestraft werden.

Frauen erleben am häufigsten Gewalt durch männliche (Ex-)Partner. Trotzdem wird behauptet, dass das Selbstbestimmungsgesetz in Deutschland Frauen gefährden könnte, die nach häuslicher oder sexualisierter Gewalt Schutzräume aufsuchen. Es wird fälschlicherweise angenommen, dass Transfrauen genauso gewalttätig sein könnten wie Männer. Diese Vorurteile schaden Transfrauen, die ein hohes Risiko tragen, selbst Opfer von Gewalt zu werden.

Im Rahmen des Selbstbestimmungsgesetzes wird häufig über die Nutzung von Toiletten oder Umkleideräumen diskutiert. Doch das Gesetz wird hier nichts ändern. Es gibt schließlich keine Geschlechtskontrollen an diesen Orten. Der Lesben- und Schwulenverband erklärt dazu: «Wenn sich cis Männer dort ungerechtfertigt Zutritt verschaffen wollen, um Gewalt auszuüben, ist das auch jetzt und ohne Änderung des Geschlechtseintrags möglich. Dass eine Person extra den Geschlechtseintrag ändert, nur um eine Toilette oder Umkleide zu betreten, ist abwegig.»

Um Geschlechtseintrag und Vornamen zu ändern, muss eine Erklärung beim Standesamt erfolgen. Diese muss drei Monate vorher angemeldet werden. Erst nach Ablauf dieser Frist kann sie abgegeben werden. Für eine weitere Änderung gilt dann eine Sperrfrist von einem Jahr. «Sie soll vor übereilten Entscheidungen schützen und die Ernsthaftigkeit des Änderungswunsches belegen», heißt es auf der Webseite des Familienministeriums. Auch dann braucht es wieder eine Voranmeldung wie bei der ersten Änderung. Die Kosten dafür tragen die Personen, die den Antrag stellen, selbst. An den Änderungswunsch sind keine medizinischen Behandlungen geknüpft.

Gesetz regelt geschlechtsangleichenden Behandlungen nicht

Das neue Selbstbestimmungsgesetz regelt für Minderjährige, unter welchen Voraussetzungen sie ihren Geschlechtseintrag und Vornamen in Registern und Dokumenten ändern können. «Das Gesetz wird keine Regelungen zu geschlechtsangleichenden medizinischen Maßnahmen treffen», heißt es auf der Seite des Familienministeriums. Es regelt auch nicht die Einnahme von chemischen Mitteln, wie der Verfasser des Posts auf Threads beschreibt. Auch die Kostenübernahme von geschlechtsangleichenden Behandlungen wird nicht im Gesetz geregelt.

Die erwähnten Pubertätsblocker halten die weibliche oder männliche Pubertät temporär auf. Die Medikamente verhindern, dass in den Hoden Testosteron oder in den Eierstöcken Östrogen produziert wird. Dadurch bleiben typische Anzeichen der Pubertät wie Stimmbruch, Bartwuchs und Brustentwicklung aus. Sobald die Betroffenen die Blocker aber absetzen, durchlaufen sie die Pubertät ihres biologischen Geschlechts.

Pubertätsblocker «kastrieren» oder sterilisieren also keinen Menschen. Sie wurden ursprünglich dazu eingesetzt, sehr verfrühte Eintritte in die Pubertät aufzuschieben. Heute können sie auch eingesetzt werden, um Jugendlichen mehr Zeit zu geben, wenn sie an ihrer Geschlechtsidentität zweifeln. Wenn sie sich also noch unsicher sind, ob sie als Mann oder Frau oder nicht-binär leben möchten oder schon eine starke Unstimmigkeit spüren zwischen biologischem und psychisch empfundenem Geschlecht. Dieser Zustand wird von Experten als Geschlechtsdysphorie bezeichnet.

Die Pause soll «in dieser Lebenskrise zunächst einmal ein Aufatmen möglich machen und darüber hinaus dann auch eine Verständigung mit therapeutischer Hilfe darüber, was jetzt genau diese Krise ausmacht und wie man mit ihr angemessen umgehe», sagte Claudia Wiesemann, Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin am Uniklinikum Göttingen, dem «Stern».

Die Bundesregierung hat 2022 in einer Stellungnahme erklärt, dass sie die Einnahme von Pubertätsblockern nicht empfiehlt. «Die Entscheidung über die Verschreibung von Pubertätsblockern liegt ausschließlich im Ermessen der behandelnden Fachärztinnen und -ärzte», erklärte die Regierung damals.

Offenbarungsverbot

In dem Threads-Post fällt das Wort «Offenbarung», womit mutmaßlich das Offenbarungsverbot gemeint ist, welches Teil des neuen Selbstbestimmungsgesetzes ist. Wörtlich erklärt das Familienministerium: «Frühere Geschlechtseinträge sollen ohne Zustimmung der betreffenden Person nicht offenbart oder ausgeforscht werden, es sei denn, dass besondere Gründe des öffentlichen Interesses dies erfordern oder ein rechtliches Interesse glaubhaft gemacht wird.» Ein Verstoß gegen das Offenbarungsverbot wird mit Bußgeld geahndet.

Der Verfasser des Posts behauptet, «das Aussprechen von wissenschaftlichen Fakten» werde bestraft und bezieht sich mutmaßlich auf das Offenbarungsverbot. Erstmal klingt das verwirrend. Wer verbietet schon wissenschaftliche Fakten? Aussagen wie diese tätigen allerdings immer wieder Menschen, die Transmenschen ablehnen. Transfeindliche Menschen akzeptieren nur ein binäres Weltbild, demnach es nur Frauen und Männer gibt, die sich mit dem bei ihrer Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Letzteres ist für sie ein «wissenschaftlicher Fakt», obwohl die Wissenschaft auch auf biologischer Ebene mehrere Geschlechtsausprägungen unterscheidet.

Ein Bußgeld bei Verstoß wird fällig bei einem «wiederholten oder besonders intensiven Verhalten ("Mobbing")». Wenn eine Person also nicht aus Versehen den falschen Vornamen oder das falsche Geschlecht bei der Ansprache nutzt, sondern das absichtlich und häufig macht. Dann können im Einzelfall wegen Beleidigung oder Nachstellung rechtliche Schritte eingeleitet werden.

(Stand: 8.5.2024)

Links

Post auf Threads (archiviert)

Die wichtigsten Änderungen des Selbstbestimmungsgesetzes (archiviert)

FAQ des Familienministeriums zum Selbstbestimmungsgesetz (archiviert)

Erklärung zur Geschlechtsdysphorie (archiviert)

Fachbericht zu verfrühten Eintritt in die Pubertät (archiviert)

Erklärung zu trans* Menschen der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (archiviert)

Daten zu Transphobie (archiviert)

Bericht der DGVN zu häuslicher Gewalt gegen Frauen (archiviert)

Video maiLab zu Geschlecht in der Wissenschaft (archiviert) (Video archiviert)

Stellungnahme Lesben- und Schwulenverband (archiviert) EU-Bericht zur Gleichstellung von trans* Menschen (archiviert)

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