Dokumente fehlinterpretiert
RKI-Aussage zu Gefahr von Corona-Lockdowns bezog sich auf Afrika
9.4.2024, 12:45 (CEST)
Protokolle des Krisenstabs des Robert Koch-Instituts (RKI) zur Corona-Pandemie, die im März 2024 ihren Weg in die Öffentlichkeit fanden, werden in sozialen Medien seitdem kontrovers diskutiert. Ein auf Facebook geteiltes Video stellt auf Basis der Dokumente die Behauptung auf, dass im Dezember 2020 bekannt gewesen sei, «dass Lockdowns schädlicher seien als Covid-19». Trotz dieser angeblichen Erkenntnis habe die Bundesregierung einen Lockdown beschlossen. Aber geht das aus den Protokollen wirklich hervor?
Bewertung
Die Aussage in den RKI-Dokumenten bezieht sich auf den Verlauf der Pandemie in Afrika. Dort würden sich Ausgangssperren negativ auf Behandlungen von Tuberkulose und Impfungen auswirken.
Fakten
Das im Post geteilte Video stammt ursprünglich von dem österreichischen Online-TV-Sender «Auf 1», der bereits in der Vergangenheit mehrfach mit Falschinformationen auffiel. Der Moderator stellt darin eine Reihe an Behauptungen auf. Gleich die erste - es sei dem RKI bekannt gewesen, «dass Lockdowns schädlicher seien als Covid-19» - ist aber stark verkürzt und so nicht zutreffend.
Die Dokumente, auf die sich der Beitrag bezieht, wurden im März vom Online-Magazin «Multipolar» veröffentlicht. Speziell geht es um ein Dokument, das auf den 16. Dezember 2020 datiert ist (Nummer 350 auf der von «Multipolar» veröffentlichten Liste).
In diesem steht zwar der Satz «Konsequenzen des Lockdowns haben zum Teil schwerere Konsequenzen als COVID selbst», allerdings unter dem Themenpunkt «Verlauf der Pandemie in Afrika». Die Gründe für diese Schlussfolgerung werden weiter oben erläutert: «Indirekte negative Effekte des Lockdowns durch Lücken bei der Behandlung von Tuberkulose, Aussetzung von Routineimpfprogrammen. Steigende Kindersterblichkeit zu erwarten». Dieser Teil bezieht sich also nicht auf Deutschland, somit ist der Hinweis auf die Entscheidung der Bundesregierung im Video irreführend.
Auch der zeitliche Ablauf war anders, als im Video behauptet. Zwar trat am Sitzungstag in Deutschland ein Lockdown in Kraft. Wie etwa «Zeit Online» damals berichtete, wurde dieser jedoch bereits drei Tage vorher beschlossen - und galt während der RKI-Sitzung schon.
Behauptungen über Impfstoffe und Masken
Auch andere Aussagen in dem Video sind irreführend. Dass es «frühe Zweifel an AstraZeneca» gab und Beschränkungen nahegelegt wurden, stimmt zwar. Geheim waren diese Erkenntnisse jedoch nicht. Die Studien waren öffentlich, und die Probleme wurden damals auch von anderen Wissenschaftlern kommentiert. Dass der Impfstoff von der Ständigen Impfkommission (STIKO) zunächst nur für Unter-65-Jährige zugelassen wurde, und zum Zeitpunkt der Empfehlung für alle Altersgruppen bereits neue Daten vorlagen, lässt das Video aus.
Weiter sagt der Moderator, es sei dem RKI bekannt gewesen, dass mRNA-Impfstoffe «keinen Einfluss auf die Verbreitung des Virus» hätten, obwohl «mit dem Argument des Fremdschutzes» Druck zum Impfen aufgebaut worden war. Aus welchem Protokoll die Schlussfolgerung gezogen wird, ist unklar.
Belegen lässt sich die Behauptung eines nicht vorhandenen Fremdschutzes jedoch nicht. Zwar wurden während der Impfstoffentwicklung noch keine Daten über den Schutz vor Übertragung gesammelt, da dies für die Zulassung gar nicht gefordert wurde. Spätere Studien zeigten jedoch, dass der mRNA-Impfstoff von BioNTech und Pfizer auch andere vor einer Infektion schützt.
Neuere Virusvarianten zeigen sich resistenter gegenüber Impfungen. Ein gewisser Fremdschutz besteht aber weiterhin. Forscher der Universität Genf kamen in einer im September 2023 veröffentlichten Studie zu dem Ergebnis, dass Geimpfte auch bei der Omikron-Variante das Virus nach einer Ansteckung weniger häufig übertragen. Einer der Autoren sagte dem SRF, der Effekt sei «zwar klein, aber ziemlich klar».
Gegen Ende des Videos behauptet der Moderator zudem, der damalige RKI-Präsident Lothar Wieler habe im Januar 2020 «keine Evidenz» für das Tragen von Masken gesehen. Zu diesem frühen Zeitpunkt lagen noch keine wissenschaftlichen Beweise für deren Nutzen vor, wie auch ein vergangener dpa-Faktencheck darlegte. Danach durchgeführte Studien belegen, dass das Tragen von Masken das Risiko der Weiterverbreitung nachweisbar senkt. Auch das RKI sprach später eine Empfehlung zum Tragen von Masken aus.
(Stand: 5.4.2024)
Links
Bericht von Multipolar (archiviert)
Artikel bei «Zeit Online» (archiviert)
Artikel zu Zweifel an AstraZeneca (archiviert)
dpa-Faktencheck zu Impfstoff-Fremdwirkung
Studie zu Impfstoff-Fremdschutz (archiviert)
Bericht zu Impfstoff-Studie vom SRF (archiviert)
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