Kein «Kreuzfeuer»
Video zeigt vor Hamas flüchtende Festival-Besucher
13.10.2023, 11:15 (CEST), letztes Update: 13.10.2023, 12:07 (CEST)
Warnung: In diesem Artikel verlinkte Seiten können schockierende Bilder enthalten
In Israel sind bei einem Terrorangriff der radikalislamischen Hamas mindestens 1200 Menschen getötet worden, der Großteil von ihnen Zivilisten. Ein Anschlagsort mit besonders vielen Toten war ein Musikfestival nahe der Grenze zum Gazastreifen.
Über dieses Festival und die dortigen Morde kursiert nun eine Verschwörungstheorie in den sozialen Netzwerken. Denn angeblich, so schreiben Nutzer, handele es sich um eine False-Flag-Aktion, also eine verdeckte Operation der israelischen Seite. Namentlich wird in den Beiträgen der Geheimdienst Mossad verantwortlich gemacht, der «eine Schießerei provoziert und sich dann feig hinter den Zivilisten vor der Retourkutsche versteckt» habe. In einem anderen Posting heißt es, die Feiernden seien «im Kreuzfeuer» zwischen israelischem Militär und Hamas getroffen worden. Als vermeintlicher Beleg wird ein Video gezeigt, das Sicherheitskräfte und Festivalbesucher zeigt, die flüchten und Schutz suchen.
Bewertung
Es gibt keinerlei Belege für eine behauptete «False-Flag-Aktion». Das Video stammt aus einem längeren Zusammenschnitt. Dieser zeigt, wie Menschen flüchten, zum Teil begleitet von israelischen Polizisten. Bereits vorher sind Schüsse zu hören. Ein «Kreuzfeuer», dem die Besucher zum Opfer fallen, zeigen die Aufnahmen nicht. Weitere Videos vom Festival und Augenzeugenberichte belegen, dass Hamas-Terroristen dort Menschen gezielt ermordet haben.
Fakten
Das Video, das die angebliche False-Flag-Aktion belegen soll, ist rund 24 Sekunden lang. In dem Ausschnitt sieht man, wie Menschen sich zwischen Bäumen und Autos geduckt in eine Richtung bewegen. Begleitet werden sie von israelischen Polizisten. Sie sind an den Abzeichen auf ihren Uniformen zu erkennen und sind zum Teil mit Pistolen bewaffnet. Auch eine weitere Person, die keine Uniform trägt, ist möglicherweise bewaffnet.
Das Video stammt aus einer Serie von Aufnahmen, bei denen es sich vermutlich um eine zusammenhängende Story aus einem sozialen Netzwerk handelt. Auf der Plattform X gibt es einen solchen Mitschnitt, in dem immer wieder dieselbe filmende Frau zu sehen ist. Dieser längere Mitschnitt und auch das kurze Video stammen vom Ort des Festivals und aus der unmittelbaren Umgebung im Süden Israels, nahe des Kibbuz Reʿim.
Die hintereinander geschnittenen Videos vermitteln einen Eindruck dessen, was auf dem Musikfestival ab dem frühen Morgen des 7. Oktober geschah. Zunächst tanzen die Besucher noch im Morgengrauen. Dann ist die Musik aus und Sicherheitskräfte fordern die Menschen zum Verlassen des Geländes auf. Später, die Sonne ist inzwischen aufgegangen, hält sich die Filmende auf einem Parkplatz auf.
Anschließend sieht man Menschen, die über ein Feld fliehen. Schüsse, manche in enger Folge und mutmaßlich aus automatischen Waffen, sind zu hören. Auch verletzte und möglicherweise getötete Menschen sind zu sehen. Die Lichtverhältnisse von der Morgendämmerung bis hin zu einem blau leuchtenden Himmel unterstreichen den Eindruck, dass hier chronologisch und in Ausschnitten die Flucht vor den angreifenden Hamas-Terroristen zu sehen ist. Am Ende des Zusammenschnitts findet sich die Szene, die als vermeintliches Beweisvideo missbraucht wird.
Angriff auf Festival begann schon vor Szenen im Video
Klar wird damit aber auch: Schon vor der Aufnahme mit den bewaffneten Polizisten sind Schüsse zu hören, vor denen die Menschen davonlaufen. Dass Polizisten schießen, ist nicht zu erkennen. Es liegt aber nahe, dass sie in anderen Momenten auf die Angreifer schossen, um die Festivalbesucher zu schützen.
In dem Video wird ausschließlich auf Hebräisch gesprochen beziehungsweise gerufen. Was zu hören ist, passt zu der Flucht unter Begleitung von Polizisten. Einige der Sätze sind Anweisungen wie «Alle nach links!». Andere warnen vor den Angreifern und Schüssen. Dass die israelischen Polizisten das Feuer eröffnen und Zivilisten deshalb getroffen würden, geht auch aus der Tonspur nicht hervor. Zudem sind in dem Video, anders als in den Social-Media-Postings behauptet, wohl ein Panzer, aber keine Soldaten der IDF, also des israelischen Militärs zu sehen.
Es gibt weitere Videos, die eindeutig zeigen, wie israelische Sicherheitskräfte versuchen, die Festivalbesucher zu schützen und wie andererseits Hamas-Terroristen Menschen töten. In einem Video fordern israelische Polizisten die Feiernden noch vor Sonnenaufgang zum Verlassen des Geländes auf. Später am Tag hat eine Auto-Dashcam auch die Ermordung von Menschen durch Hamas-Attentäter festgehalten.
Nach Angaben der BBC handelt es sich bei einem der im Video zu sehenden Angreifer um einen Mann, der zu den Sicherheitskräften im von der Hamas kontrollierten Gazastreifen gehört. Der britische Sender beruft sich dabei auf digital gestützte Gesichtsvergleiche. Eine zweite Dashcam-Aufnahme zeigt, wie Terroristen auf einer nahen Straße auf ein fahrendes Auto mit vermutlich flüchtenden Festivalbesuchern schießen. Ob sie überlebt haben, ist wie auch bei vielen der Menschen in den anderen Videos unklar.
Augenzeugen berichten von Angreifern mit automatischen Waffen
Auch Augenzeugen haben in Medien geschildert, was auf dem Festival geschah. Die BBC zitiert Besucher, die von Angreifern aus mehreren Richtungen und mit automatischen Waffen sprechen. Dem israelischen Sender N12 sagte eine Besucherin, dass 50 Terroristen mit Transportern und in Militäruniformen aufgetaucht seien.
Der israelische Rettungsdienst Zaka sprach im Zusammenhang mit dem Anschlag auf das Festival von mindestens 260 Toten. Berichten zufolge hatten dort mehrere Tausend Menschen in der Nacht von Freitag auf Samstag gefeiert, ehe die Hamas angriff. In ganz Israel sind bei den Anschlägen und Attacken vom 7. Oktober den jüngsten Angaben zufolge mindestens 1200 Menschen getötet worden. Mindestens 3000 Menschen wurden verletzt und rund 150 in den Gazastreifen entführt, darunter Besucher des Festivals. Einzelne Verschleppungen sind ebenfalls auf Video festgehalten worden.
(Stand: 12.10.2023)
Links
Foto eines israelischen Polizeiabzeichens (archiviert)
Längeres Video der Flucht vom Festivalgelände (archiviert; Video archiviert)
Anschlagsort auf Google Maps (archiviert)
Video vom Abbruch des Festivals (archiviert; Video archiviert)
Video-Verifizierung durch die BBC (archiviert)
Dashcam-Video via «Daily Mail» (archiviert; Video archiviert)
N12 mit Augenzeugenberichten (archiviert)
Meldung der BBC über Opferzahlen beim Festival (archiviert)
Video einer Entführung via «The Independent» (archiviert; Video archiviert)
Über dpa-Faktenchecks
Dieser Faktencheck wurde im Rahmen des Facebook/Meta-Programms für unabhängige Faktenprüfung erstellt. Ausführliche Informationen zu diesem Programm finden Sie hier.
Erläuterungen von Facebook/Meta zum Umgang mit Konten, die Falschinformationen verbreiten, finden Sie hier.
Wenn Sie inhaltliche Einwände oder Anmerkungen haben, schicken Sie diese bitte mit einem Link zu dem betroffenen Facebook-Post an faktencheck@dpa.com. Nutzen Sie hierfür bitte die entsprechenden Vorlagen. Hinweise zu Einsprüchen finden Sie hier.
Schon gewusst?
Wenn Sie Zweifel an einer Nachricht, einer Behauptung, einem Bild oder einem Video haben, können Sie den dpa-Faktencheck auch per WhatsApp kontaktieren. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.