Weidel nannte falsche Zahl

Insolvenz ist nur einer von vielen Gründen für Geschäftsaufgaben

18.10.2023, 18:12 (CEST)

Der Trend bei den Unternehmensinsolvenzen zeigt nach oben, Experten erwarten einen weiteren Anstieg. Doch in diesem Zusammenhang verbreitet eine AfD-Politikerin nun eine falsche Zahl. Der Faktencheck.

In sozialen Netzwerken macht ein Clip mit zusammengeschnittenen Aussagen von Alice Weidel die Runde. Die AfD-Chefin spricht darin unter anderem von «56 000 Insolvenzanmeldungen in Deutschland». Aus dem Clip geht aber nicht hervor, auf welchen Zeitraum und auf welche Quelle sich Weidel bezieht. Wovon spricht die Politikerin? Ist die Zahl korrekt?

Bewertung

Hier fehlt wichtiger Kontext: Alice Weidel sprach in dem Interview über Unternehmensinsolvenzen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 insgesamt 10 157 Unternehmen in Deutschland Insolvenz beantragt. Dem Trend nach dürfte die Zahl weiter steigen. Die AfD-Politikerin hat derweil Geschäftsaufgaben mit Insolvenzen gleichgesetzt.

Fakten

Die für den Clip zusammengeschnittenen Aussagen stammen aus einem Beitrag des österreichischen Senders «Auf1». Zusammen mit dem FPÖ-Chef Herbert Kickl gab Alice Weidel dem Medium ein Interview. «Auf1» hat es am 18. September 2023 veröffentlicht. Die FPÖ teilte es später bei Youtube.

Weidel thematisiert darin unter anderem gestiegene Energiepreise, die vor allem die Unternehmen betreffen würden. In diesem Zusammenhang sagt sie bei Minute 28:01: «Auch noch mal eine ganz interessante Zahl: In diesem Jahr haben über 50 000 - es sind 56 000 - Unternehmen Insolvenz angemeldet. Und das ist nicht nur ein langsames Rutschen unserer Unternehmen und unseres Mittelstandes, sondern das geht jetzt alles ganz schnell. 56 000 Insolvenzanmeldungen in Deutschland - und das sind Zahlen, die liegen auf dem Tisch (...).»

Weidels Angabe von «56 000 Insolvenzanmeldungen» bezieht sich also auf Unternehmensinsolvenzen seit Anfang 2023.

Destatis: 8571 Anträge im ersten Halbjahr, 1586 weitere im Juli

Das Statistische Bundesamt (Destatis) veröffentlicht regelmäßig Zahlen zur Insolvenz-Entwicklung in Deutschland. Dabei wird zwischen dem Regelinsolvenzverfahren (für Unternehmen und ehemals selbstständig tätige Personen) sowie der Verbraucherinsolvenz unterschieden.

Außerdem gibt es mehrere Hinweise zu beachten: So basieren etwa die monatlichen Mitteilungen auf vorläufigen Zahlen, zugleich werden endgültige Werte für zurückliegende Monate gemeldet. Die Verfahren fließen erst nach der ersten Entscheidung des Insolvenzgerichts in die Statistik ein, der tatsächliche Zeitpunkt des Insolvenzantrags liege in vielen Fällen annähernd drei Monate davor.

Die Deutsche Presse-Agentur hat die Behörde nach dem Stand der Unternehmensinsolvenzen gefragt, auf die sich Weidel bezieht. Wie ein Sprecher am 10. Oktober erklärte, liegen endgültige Zahlen für das erste Halbjahr 2023 vor. Demnach haben in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 8571 Unternehmen in Deutschland Insolvenz angemeldet - 20,5 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.

Nach der Antwort des Sprechers hat das Statistische Bundesamt am 13. Oktober nun auch die endgültige Zahl für den Juli 2023 veröffentlicht. Demnach beantragten in dem Monat 1586 Unternehmen Insolvenz - 37,4 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Zusammengerechnet heißt das also: Nach aktuellem Datenstand haben von Januar bis Juli 10 157 Unternehmen in Deutschland Insolvenz beantragt. Die von Weidel verbreitete Zahl ist also falsch.

Weidel setzt Gewerbeaufgaben mit Insolvenzen gleich

Alice Weidel nennt für die von ihr verbreitete Zahl in dem Interview keine Quelle. Die dpa hat daher in ihrem Abgeordnetenbüro nachgefragt. Ein Sprecher verwies auf einen Bericht der «Zeit» und teilte mit: «Es müsste tatsächlich korrekt lauten: "50 600 Unternehmen" und nicht "56 000"». Doch auch das ist falsch.

Der entsprechende «Zeit»-Bericht vom 11. August 2023 behandelt eine Mitteilung des Statistischen Bundesamtes zu den registrierten Gewerbeaufgaben in Deutschland. Demnach haben rund 50 600 Betriebe mit größerer wirtschaftlicher Bedeutung ihr Gewerbe im ersten Halbjahr 2023 vollständig aufgegeben, wie das Bundesamt meldete.

Die AfD-Politikerin setzt also die Zahl der Gewerbeaufgaben mit der Zahl der beantragten Insolvenzen gleich. Insolvenzen sind hingegen nur ein möglicher Grund für eine Gewerbeaufgabe, wie das Statistische Bundesamt erklärt. Mit der Gleichsetzung werden andere Gründe, etwa eine fehlende Nachfolge, aus dem Blick gelassen.

Experten erwarten weitere Firmenpleiten

Für August und September gibt es noch keine endgültigen Werte, der Trend bei den Firmenpleiten zeigt jedoch weiter nach oben: Die Zahl der beantragten Regelinsolvenzverfahren lag im August 2023 den vorläufigen Destatis-Daten zufolge um 13,8 Prozent über dem Wert des Vorjahresmonats. Für den September meldet die Behörde ein vorläufiges Plus von 19,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat.

Wie die dpa kürzlich berichtete, erwarten Experten auch für das zweite Halbjahr 2023 steigende Zahlen bei den Unternehmensinsolvenzen: «Inflation, Kaufzurückhaltung, hohe Energiepreise und steigende Finanzierungskosten machen den Unternehmen zunehmend zu schaffen und lassen sich kaum noch kompensieren», ordnete der Partner der Beratungsgesellschaft Falkensteg, Jonas Eckhardt, in einer Analyse ein. «Zudem gibt es noch einen Nachholeffekt aufgrund der umfangreichen staatlichen Hilfen in den vergangenen zwei Jahren, die inzwischen ausgelaufen sind und viele Unternehmen am Leben hielten.»

In den vergangenen Jahren hatten staatliche Hilfen sowie teils ausgesetzte Insolvenzantragspflichten trotz Corona- und Energiekrise die Zahl der Firmenpleiten in Deutschland niedrig gehalten. Im Gesamtjahr 2022 zählte das Bundesamt mit 14 590 Fällen relativ wenige Unternehmensinsolvenzen.

Falschbehauptung über Baerbock

In dem Interview spielt die AfD-Chefin später noch auf einen vermeintlichen Versprecher von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) an. Angeblich soll Baerbock von einem «560 Tage-Jahr» gesprochen haben. Das ist falsch, zeigt ein Faktencheck.

(Stand: 16.10.2023)

Links

Destatis zu Gewerbemeldungen und Insolvenzen (archiviert)

Hinweise zur Interpretation der Insolvenzstatistiken (archiviert)

Mitteilung zur Entwicklung im August 2023 (archiviert)

Mitteilung zur Entwicklung im September 2023 (archiviert)

dpa-Bericht vom 13. September 2023 über Trend bei Firmenpleiten (archiviert)

«Zeit»-Bericht vom 11. August 2023 (archiviert)

Mitteilung zu Gewerbeaufgaben im ersten Halbjahr (archiviert)

«Tagesschau»-Bericht über fehlende Nachfolge (archiviert)

dpa-Faktencheck zum angeblichen Baerbock-Versprecher

«Auf1»-Interview vom 18. September 2023 (archiviert / archiviertes Video)

FPÖ-Video bei Youtube (archiviert)

Facebook-Post (archiviert / archiviertes Video)

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