Versprecher-Vorwurf haltlos

Baerbock spricht von «über 560 Tagen» seit Kriegsbeginn

19.9.2023, 10:35 (CEST)

Bei ihrem Besuch in der Ukraine verspricht die Außenministerin: Deutschland stehe dem Land bei, solange es nötig sei. Aus einem ihrer Sätze soll Baerbock nun ein Strick gedreht werden.

Menschen versprechen und verhaspeln sich, das ist nicht selten. Davor ist auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock nicht gefeit. Nach einem Besuch in der Ukraine wird der Grünen-Politikerin aber nun unterstellt, bei ihr sei das Jahr plötzlich 560 statt 365 Tage lang. Das habe sie auf einer Pressekonferenz in Kiew so gesagt. Aber von einem «peinlichen Aussetzer», wie etwa die rechtskonservative Wochenzeitung «Junge Freiheit» schreibt, oder einer außer Kraft gesetzten Zeitrechnung, wie die Schweizer «Weltwoche» hämisch kommentiert, kann in diesem Fall überhaupt keine Rede sein.

Bewertung

Wer Baerbocks Rede vollständig anhört, erkennt: Die Angabe von «über 560 Tagen» bezieht sich auf den Zeitraum seit Kriegsbeginn, nicht auf ein Kalenderjahr. Sie nennt die Zahl in ihrer Rede noch ein weiteres Mal. Auch das Auswärtige Amt verbreitet die Angabe über seine Social-Media-Kanäle.

Fakten

Der Vorwurf gegen Baerbock entbrennt an einem ihrer Sätze auf der Pressekonferenz mit ihrem ukrainischen Kollegen Dmytro Kuleba. Am 11. September 2023 sagt sie in Kiew (ab 5:07 Min.): «Meine Botschaft auch jeden Tag, in den über 560 Tagen, im letzten Jahr, ist: Wir helfen euch nicht nur, sondern wir stehen an eurer Seite, solange ihr uns braucht.»

Es ist der vierte Besuch Baerbocks in der Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf das Land. Bis zu ihrer Pressekonferenz sind seit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 genau 565 Tage vergangen. Darauf bezieht sich Baerbock ganz offensichtlich. Denn das Auswärtige Amt verbreitet die Angabe etwa auf Facebook oder via Instagram.

Denn sie verwendet die Zahl bei diesem Auftritt vor der Presse mehrmals. An den ukrainischen Außenminister gewandt sagt sie (ab 11:31 Min.): «Lieber Dymtro, auch nach 565 Tagen kann es keine Gewöhnung an diese Gräueltaten, an diesen furchtbaren Angriffskrieg geben.»

An anderer Stelle bezieht sich Baerbock auch auf diese Zahl, allerdings mit einem Zahlendreher (also einem tatsächlichen Versprecher): Über ihre Erlebnisse aus vier Besuchen in der Ukraine sagt sie (ab 3:58 Min.), diese seien «nichts im Vergleich zu den 556 [eigentlich 565] Tagen, an denen für die Menschen in der ganzen Ukraine der Krieg jeden Tag, jede Stunde zum schrecklichen Alltag geworden ist.»

Baerbock hat über die gesamte Dauer des Krieges («in den über 560 Tagen») und auch im vergangenen Jahr («im letzten Jahr») immer wieder deutlich gemacht, dass Deutschland an der Seite der Ukraine steht - auch bei den drei vorangegangen Visiten in dem Land (hier, hier und hier).

Wie sie jedem Menschen passieren können, sind auch der Außenministerin schon Versprecher unterlaufen. Zum Beispiel sagt sie auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2023 mit Blick auf den Ukraine-Krieg auf Englisch: Wenn sich Russlands Präsident Wladimir Putin «um 360 Grad» drehe, sei die Welt wieder zufrieden. Gemeint sind sicherlich 180 Grad.

(Stand: 15.9.2023)

Links

Pressekonferenz in Kiew am 11.9.2023, Baerbock ab 3:40 Min. (archiviert)

Berechnete Zeitspanne 24.2.2022 bis 11.9.2023 (archiviert)

Auswärtiges Amt auf Facebook über mehr als 560 Tage Krieg (archiviert)

Auswärtiges Amt auf Instagram über mehr als 560 Tage Krieg (archiviert)

dpa-Bericht über ersten Baerbock-Besuch in der Ukraine, via «Süddeutsche Zeitung» (archiviert)

dpa-Bericht über zweiten Baerbock-Besuch in der Ukraine, via «Die Welt» (archiviert)

dpa-Bericht über dritten Baerbock-Besuch in der Ukraine, via «Tagesspiegel» (archiviert)

Transkript eines Panels u.a. mit Baerbock auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 18.2.2023 (archiviert)

«Junge Freiheit» über vermeintlichen Baerbock-Versprecher (archiviert)

«Weltwoche» über vermeintlichen Baerbock-Versprecher (archiviert)

X-Post mit vermeintlichem Baerbock-Versprecher (archiviert)

Über dpa-Faktenchecks

Dieser Faktencheck wurde im Rahmen des Facebook/Meta-Programms für unabhängige Faktenprüfung erstellt. Ausführliche Informationen zu diesem Programm finden Sie hier.

Erläuterungen von Facebook/Meta zum Umgang mit Konten, die Falschinformationen verbreiten, finden Sie hier.

Wenn Sie inhaltliche Einwände oder Anmerkungen haben, schicken Sie diese bitte mit einem Link zu dem betroffenen Facebook-Post an faktencheck@dpa.com. Nutzen Sie hierfür bitte die entsprechenden Vorlagen. Hinweise zu Einsprüchen finden Sie hier.

Schon gewusst?

Wenn Sie Zweifel an einer Nachricht, einer Behauptung, einem Bild oder einem Video haben, können Sie den dpa-Faktencheck auch per WhatsApp kontaktieren. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.