Urteil fehlinterpretiert
Christine Lagarde ist nicht vorbestraft
22.5.2023, 15:33 (CEST)
Entscheidungen von Gerichten sind manchmal kompliziert - und manchmal ist es vielleicht nicht ganz verständlich, was nach einem Prozess tatsächlich Sache ist. So heißt es zum Beispiel, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde sei in Folge eines Verfahrens angeblich wegen Begünstigung vorbestraft worden, habe die Strafe aber nie absitzen müssen.
Bewertung
Die Behauptung ist falsch. Lagarde wurde nicht wegen Begünstigung verurteilt, sondern wegen eines anderen Delikts für schuldig befunden. Nach diesem Richterspruch gilt sie gemäß französischem Recht als nicht vorbestraft.
Fakten
Die Behauptung, Lagarde sei wegen Begünstigung bestraft worden, ist falsch. Lagarde wurde am 19. Dezember 2016 zum Abschluss eines Strafverfahrens vor dem Gerichtshof der Republik (Cour de justice de la République CJR) der Fahrlässigkeit (négligence) im Umgang mit öffentlichen Geldern in Höhe von 45 Millionen Euro für schuldig befunden. Auch die Anklage war wegen Fahrlässigkeit erhoben worden, nicht wegen Begünstigung (favoritisme).
Das Urteil gegen Lagarde bezieht sich auf Artikel 432-16 des französischen Strafgesetzbuches, der die «Fahrlässigkeit einer Person, ... die Träger öffentlicher Gewalt ist,» bestraft. Es bezieht sich nicht auf den in Artikel 432-14 geregelten Tatbestand der Begünstigung.
Tatsächlich ist Lagarde zwar der Fahrlässigkeit für schuldig befunden, aber deswegen nicht zu einer Strafe verurteilt worden. In dem Urteil heißt es ausdrücklich, dass Lagarde nicht bestraft werde. Ebenfalls ausdrücklich beschloss das Gericht, dass es keinen Eintrag im Vorstrafenregister geben werde. Nach französischem Recht gilt jede Person, die keinen Eintrag im Vorstrafenregister hat, als nicht vorbestraft.
Das milde Urteil begründete das Gericht unter anderem damit, dass man berücksichtigen müsse, dass Lagarde als Finanzministerin mit der Bekämpfung einer internationalen Finanzkrise beschäftigt gewesen sei. «Ihre Persönlichkeit und ihr nationaler und internationaler Ruf müssen ebenfalls berücksichtigt werden», heißt es in dem Beschluss des Gerichts.
Bernard Tapie und Christine Lagarde
In dem Video, das die falsche Behauptung verbreitet, nimmt der Sprecher auch Bezug auf den französischen Unternehmer und Politiker Bernard Tapie, mit dem das Verfahren von Lagarde zusammenhing. Tapie habe «sich Geld besorgt», als er von 1990 bis 1993 Chef des Sportartikelherstellers Adidas gewesen sei. Dabei seien «dubiose Sachen» gelaufen. Christine Lagarde, die von Juni 2007 bis Juni 2011 französische Finanzministerin war, habe «dafür gesorgt, dass der Mann straffrei rausgegangen ist, ist dann anschließend verklagt worden und tatsächlich wegen Begünstigung bestraft worden».
Mit den Tatsachen hat diese Darstellung nichts zu tun. Zutreffend ist vielmehr, dass der politisch bestens vernetzte Unternehmer Tapie mehrmals zu Gefängnisstrafen verurteilt wurde. Von drei Verurteilungen wurde in zwei Verfahren die Haft später wieder aufgehoben, in einem Fall verbüßte er sechs Monate hinter Gittern. Dabei handelte es sich um ein 1995 ergangenes Urteil wegen der Manipulation eines Spiels des Fußballvereins Olympique Marseille, dessen Eigentümer Tapie damals war.
Warum ging es im Verfahren gegen Lagarde?
Hinter dem Schuldspruch für Lagarde steht eine langwierige Auseinandersetzung zwischen Tapie und den französischen Behörden. Dabei ging es - vereinfacht gesagt - darum, dass die Bank Crédit Lyonnais die Adidas-Anteile von Tapie zurückkaufte, kurz danach jedoch für etwa das Doppelte weiterverkaufte. Dadurch fühlte sich Tapie betrogen.
Im Streit mit einem öffentlichen Konsortium, das mit der Abwicklung des zwischenzeitlich zahlungsunfähig gewordenen Bankhauses beauftragt war, hatte ein Schiedsgericht Tapie eine Entschädigungszahlung von 405 Millionen Euro zugebilligt. 45 Millionen davon sollten als eine Art Schmerzensgeld für erlittene Unbill gelten. Lagarde wurde vorgeworfen, gegen diesen Schiedsgericht-Spruch keinen Einspruch erhoben zu haben, der französisches Steuergeld hätte schützen können.
(Stand: 22.5.23)
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