Zahlen verändert

Geleakte US-Dokumente teilweise nachträglich bearbeitet

14.4.2023, 17:15 (CEST)

Der Skandal um die geleakten Pentagon-Dokumente sorgt weltweit für Aufruhr und schafft Nährboden für Spekulationen - aber auch für Fälschungen. Teilweise finden sich Spuren von Bildbearbeitungen.

Vor kurzem sind brisante Geheimdokumente der US-Regierung online veröffentlicht worden, die sich unter anderem mit der aktuellen Lage in der Ukraine befassen. Besondere Aufmerksamkeit erlangte dabei ein Blatt, das Aufschluss über die Verluste auf russischer und ukrainischer Seite geben soll. Allerdings sind mehrere Versionen dieses Dokuments im Umlauf, die unterschiedliche Angaben dazu machen. Wie ist das möglich und was hat es mit dem Leak auf sich?

Bewertung

Auf einigen Bildern der Dokumente finden sich eindeutige Spuren einer nachträglichen Bearbeitung. Durch die Manipulation soll der Eindruck entstehen, die Verluste der Ukraine seien deutlich größer als die russischen.

Fakten

Das mutmaßliche Geheimdokument, welches im Fokus steht, zeigt eine Karte der Front im Südosten der Ukraine. In der unteren linken Hälfte des Dokuments sind in einem Kasten die geschätzten Verluste an Soldaten und Kriegstechnik auf beiden Seiten von Beginn der Invasion bis zum 1. März 2023 aufgelistet.

Versionen mit unterschiedlichen Zahlen im Umlauf

Eine Version der Dokumente beziffert in diesem Kasten die russischen Verluste deutlich höher als die der ukrainischen Seite. Demnach sollen seit dem Einmarsch vor gut einem Jahr 35 500 bis 43 500 russische Soldaten getötet worden sein («35.5k - 43.5k KIA» für «killed in action»). Zudem soll Russland 72 Abfangjäger/Bomber, 82 Hubschrauber, sowie 6 004 Bodenfahrzeuge verloren haben.

Auf ukrainischer Seite sind 16 000 - 17 500 Soldaten, 60 Abfangjäger/Bomber, 32 Hubschrauber und 11 strategische, sowie 34 taktische Boden-Luft-Raketen («surface-to-air missiles» oder «SAMs») verzeichnet.

Eine andere Version des Dokuments zeichnet ein anderes Bild: Die 16 000 - 17 500 gefallenen Soldaten werden hier Russland zugeschrieben. Die ukrainischen Verluste belaufen sich laut dieser Darstellung auf 61 000 - 71 500 Soldaten.

Auch die Angaben beim Kriegsgerät weichen stark ab. Russland soll laut dieser Version 7 Abfangjäger/Bomber, 8 Hubschrauber und 600 Bodenfahrzeuge verloren haben, die Ukraine 60 Abfangjäger/Bomber, 32 Hubschrauber, sowie 21 strategische und 74 taktische SAMs.

Zahlen vertauscht und anders zusammengesetzt

Bei genauerem Hinsehen erkennt man Unstimmigkeiten in der Version, welche die russischen Verluste geringer zeichnet. Die angebliche Anzahl der mutmaßlich gefallenen russischen Soldaten («16k - 17.5k KIA»), die in der anderen Version die Verluste der Ukraine angibt, wurde schlicht kopiert und weiter oben eingefügt. Das erkennt man an der Neigung der Zeile, die nicht verändert wurde und daher nicht zu den darüber und darunter liegenden Zeilen passt.

Gleichzeitig hat man die ukrainischen Verluste vergrößert, indem Ziffern vertauscht wurden: 16 statt 61 und 17.5 statt 71.5. Dabei wurde die 6 jedoch etwas zu tief eingefügt. Außerdem ist der Abstand zwischen der 1 und dem Punkt zu groß, weil an dieser Stelle ursprünglich eine 7 stand, die breiter ist.

Bei den Angaben der angeblich verlorenen russischen Bodenfahrzeuge (600) fällt auf, dass der Abstand zwischen der 6 und der ersten 0 größer ist als beispielsweise bei der 60 drei Zeilen weiter unten. Dies kann man dadurch erklären, dass in der anderen Variante die Anzahl der russischen Fahrzeugverluste mit «6.004» angegeben wurde. Bei der Bearbeitung wurden zwar der Punkt und die Ziffer 4 gelöscht sowie der Folgetext nachgezogen. Der Abstand zwischen der 6 und der 0 wurde jedoch nicht angepasst.

Zweifelhafte Verlustangaben der russischen Luftwaffe

Auch die einstelligen Zahlen der angeblich verlorenen russischen Flugzeuge und Kampfhubschrauber werfen Fragen auf. Im Verlauf des letzten Jahres haben deutsche und internationale Medien immer wieder von abgeschossenen oder abgestürzten russischen Kampfjets berichtet.

Allein beim ukrainischen Angriff auf den russischen Luftwaffenstützpunkt Saki auf der Krim am 9. August 2022 wurden mehrere Flugzeuge zerstört. Auf kurz darauf veröffentlichten Satellitenbildern sind mindestens fünf Wracks zu erkennen. Ukrainische Quellen gehen davon aus, dass bei diesem Angriff mindestens 8 Flugzeuge zerstört wurden.

Auch wenn man Angaben derzeit nur schwer überprüfbar sind, ist es also äußerst unwahrscheinlich, dass Russland seit Beginn der Invasion nur sieben Flugzeuge verloren haben soll. So gehen beispielsweise die niederländische Webseite Oryx und der Kommandant der US-Luftwaffe in Europa, General James B. Hecker, von rund 70 zerstörten russischen Flugzeugen aus. Dies deckt sich mit den Angaben in der ersten Version des mutmaßlichen Geheimdokuments (72 Abfangjäger/Bomber).

Auf russischen Online-Foren werden zudem Listen gefallener russischer Luftwaffenoffiziere verbreitet. Vergleicht man diese mit offiziellen Todesanzeigen und Berichten auf russischen Nachrichtenseiten, lassen sich viele Piloten identifizieren, die nach offiziellen Angaben während einer Flugmission in der Ukraine gefallen sind (beispielsweise hier, hier, hier, hier oder hier).

FBI nimmt 21-jährigen Militärangehörigen fest

Recherchen ergaben, dass Teile der Geheimdokumente in unterschiedlicher Form bereits zu Beginn des Jahres 2023 auf verschiedenen Plattformen veröffentlicht wurden. Das Investigativ-Netzwerk Bellingcat vermutet, dass einige der Dokumente sogar noch früher online gestellt worden sein könnten.

Laut Medienberichten haben das US-Justizministerium und das Pentagon eine Untersuchung der Daten-Leaks in die Wege geleitet. Ein 21-jähriger Verdächtiger wurde laut US-Justizminister Merrick Garland mittlerweile festgenommen.

(Stand: 14.4.2023)

Links

Deutsche und britische Berichte über Abschüsse und Abstürze russischer Kampfjets (archiviert BILD, archiviert BBC)

ntv-Bericht mit Sattelitenaufnahmen zum Angriff auf die Saki-Flugbasis (archiviert)

Ukrainischer Bericht zum Saki-Angriff (archiviert)

Listen mutmaßlich gefallener russischer Soldaten (archiviert)

Nachrufe auf russische Luftwaffenoffiziere: I, II, III, IV, V (archiviert I, archiviert II, archiviert III, archiviert IV,archiviert V)

Oryx und US-General Hecker zu den Verlusten der russischen Luftwaffe (archiviert Oryx,archiviert Hecker)

BBC und Bellingcat zum vermuteten Verlauf der Leak-Publikation (archiviert BBC, archiviert Bellingcat)

Belltower News über 4chan (archiviert)

Pro-russischer Telegram-Kanal «Два майора» mit Fake-Publikation (archiviert)

CNN zur US-Untersuchung (archiviert)

Der Spiegel zur Festnahme des Leak-Verdächtigen (archiviert)

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