Falsche Auslegung

Nürnberger Kodex betrifft nur medizinische Versuche

24.01.2023, 12:55 (CET)

Seit Beginn der Corona-Impfungen liest man in Netz immer wieder vom sogenannten Nürnberger Kodex, der diesen angeblich entgegensteht. Nur besagt der etwas Anderes.

Aktuell wird im Netz sowie in den sozialen Medien die Meldung verbreitet, dass eine Frau in die Psychiatrie eingewiesen und dort die Grundimmunisierung gegen Corona erhalten soll - gegen ihren Willen. Dies verstoße angeblich gegen den Nürnberger Kodex. Doch was steht darin eigentlich genau?

Bewertung

Der Nürnberger Kodex ist lediglich ein Regelwerk zu medizinischen Versuchen am Menschen. Eine ärztliche Behandlung gegen den Willen der betroffenen Person ist unter bestimmten gesetzlichen Parametern möglich, sofern ein «erheblicher gesundheitlicher Schaden» für die betroffene Person zu befürchten wäre.

Fakten

Anfang Dezember wurde am Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt der Fall einer älteren Dame verhandelt. Da sie unter anderem die Versorgung durch einen Pflegedienst und die Medikamenteneinnahme wiederholt verweigert habe, sollte nun durch ihre Betreuerin eine Unterbringung wahlweise in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses oder einer Pflegeeinrichtung erfolgen. In diesem Zuge solle auch eine Grundimmunisierung vorgenommen werden, entschied das Gericht.

Verschiedene Online-Medien haben den Beschluss – teilweise auch inklusive der personenbezogenen Daten – im Internet veröffentlicht. Dieser ist authentisch, wie eine Pressesprecherin des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt der Deutschen Presse-Agentur (dpa) auf Anfrage mitteilte.

Zwangsbehandlungen in Deutschland

Hierzulande können eine zwangsweise Unterbringung sowie ärztliche Zwangsmaßnahmen nur unter bestimmten Voraussetzungen erfolgen. Gesetzliche Grundlage hierfür sind die Paragrafen 1831 und 1832 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB).

In Ersterem ist festgelegt, dass eine Unterbringung in Verbindung mit Freiheitsentzug – wie etwa in einer geschlossenen Abteilung – durch einen Betreuer nur dann zulässig ist, wenn die betroffene Person sich selbst «aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung […] erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt». Oder aber, wenn eine medizinische Maßnahme notwendig ist, die ohne Unterbringung nicht durchgeführt werden könnte. Außerdem ist eine Genehmigung durch ein Betreuungsgericht erforderlich.

Auch ärztliche Zwangsmaßnahmen gegen den Willen der betroffenen Person können gemäß § 1832 BGB nur durchgeführt werden, um einen erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden, und sofern der «zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartende Beeinträchtigungen deutlich überwiegt». Des Weiteren ist im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) festgelegt, dass die betroffene Person selbst sowie ein ärztlicher Sachverständiger angehört werden muss.

Ein entsprechendes Sachverständigengutachten lag dem Amtsgericht vor, wie dem im Internet veröffentlichten Beschluss zu entnehmen ist. In diesem seien verschiedene körperliche Vorerkrankungen sowie psychische Einschränkungen festgestellt worden. Darum benötige die Betroffene ärztliche Behandlung, die «derzeit ohne geschlossene Unterbringung» nicht erfolgen könne, so das Gericht. Entsprechend den Vorgaben des BGB sei die Impfung gegen Covid-19 in diesem Zuge notwendig, um «einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden von ihr abzuwenden.» Der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Maßnahme überwiege die zu erwartenden Beeinträchtigungen, argumentierte das Gericht weiter.

Inzwischen wurde das Rechtsmittel der Beschwerde beim Landgericht Stuttgart eingelegt. Daraufhin wurde «die sofortige Wirksamkeit und Vollziehung des Beschlusses vom 6.12.2022 einstweilen ausgesetzt», so die Pressesprecherin des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt. Das bedeute, dass bis zur eingehenden Prüfung der Beschwerde durch das Landgericht die Zwangsbehandlung nicht vollzogen werden könne, die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung sei davon aber nicht betroffen. Doch mit dem Nürnberger Kodex hat das rein gar nichts zu tun.

Ethische Richtlinien gegen unfreiwillige Menschenversuche

Von Dezember 1946 bis August 1947 fand in Nürnberg vor dem Ersten Amerikanischen Militärgerichtshof der sogenannte Nürnberger Ärzteprozess statt. Hier waren mehrere Ärzte wegen «Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von medizinischen Experimenten und Eingriffen» angeklagt.

Während der NS-Zeit wurden unter dem Vorwand der Wissenschaft Versuche an Insassen von Konzentrationslagern und weiteren Zivilisten durchgeführt. Um derlei Experimente gegen den Willen von Versuchspersonen künftig zu unterbinden, wurden in der Urteilsbegründung 1947 zum ersten Mal ethische Richtlinien für die medizinische Forschung am Menschen definiert.

Im Zusammenhang mit der Corona-Impfung kann jedoch nicht von einem Experiment gesprochen werden, betonte zwischenzeitlich auch der Präsident der Ärztekammer Berlin und warnte vor derart missbräuchlicher Auslegung des Nürnberger Kodex. Vor der Zulassung der Impfstoffe seien sämtliche Tests entsprechend den dort festgelegten Vorgaben verlaufen: zunächst in präklinischen Studien an Tieren und erst dann ausschließlich an freiwilligen Testpersonen.

(Stand: 23.1.2023)

Links

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§ 1831 BGB (archiviert)

§ 1832 BGB (archiviert)

§ 420 FamFG (archiviert)

Dokumente zu den Nürnberger Prozessen an der Universtät Harvard (archiviert)

Ärztekammer Berlin zum Nürnberger Kodex (archiviert)

Grundsätze des Nürnberger Kodex (archiviert)

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