Klimaschutz-Paket «Fit for 55»
Kommission will Häuser-Sanierung anstoßen - keine Enteignung
2.2.2023, 10:36 (CET)
In den sozialen Netzwerken verbreiten Nutzer derzeit Behauptungen über Klimaschutz-Vorschläge der Europäischen Union (EU). So schreiben User bei Facebook, mit dem «Fit for 55»-Gesetzesentwurf plane die EU angeblich die «gezielte Enteignung von Häusern». Demnach dürften Gebäude, die nicht nach neu festgelegten Gebäuderichtlinien und Energiestandards saniert werden, ab 2030 nicht mehr genutzt werden. In diesem Zusammenhang teilen die Nutzer Youtube-Videos und Blogbeiträge, die offenbar als Quelle für die Behauptungen dienen sollen. Stimmen diese Aussagen?
Bewertung
Die Behauptung, die EU plane Häuser-Enteignungen, ist falsch. Die Aussagen beziehen sich auf einen Gesetzesvorschlag der EU-Kommission. Um die Klimaziele zu erreichen, sollen unter anderem die Treibhausgasemissionen im Gebäudesektor mittels energetischen Sanierungen reduziert werden. Dass dabei Enteignung von Häusern geplant sei oder ein Nutzungsverbot droht, steht nicht im Vorschlag. Das bestätigte die EU-Kommission auch auf Nachfrage. Das Gesetzgebungsverfahren läuft derweil noch.
Fakten
Die Europäische Union soll bis 2050 klimaneutral werden. Dieses Ziel haben sich die Mitgliedstaaten im Kampf gegen die globale Erwärmung gesetzt und mit dem Europäischen Klimagesetz rechtlich verankert. Klimaneutralität bedeutet, dass nicht mehr Treibhausgase ausgestoßen werden, als auch wieder gebunden werden können. Als ein Zwischenziel auf dem Weg zu einer klimaneutralen EU sollen zudem die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 gesenkt werden.
Was bedeutet «Fit for 55» und worum geht es dabei?
2021 hat die EU-Kommission mehrere Vorschläge veröffentlicht, die helfen sollen, dieses Zwischenziel zu erreichen. Das Maßnahmenpaket trägt das Motto «Fit for 55» und umfasst eine Reihe von einzelnen Vorschlägen. Diese betreffen unterschiedliche Aspekte: So geht es zum Beispiel um Änderungen am EU-Emissionshandelssystem (EU-EHS) oder eine Erhöhung des Anteils Erneuerbarer Energien.
Neben einer Ausweitung des Emissionshandelssystems auf den Straßen- und Gebäudesektor hat die Kommission am 15. Dezember 2021 vorgeschlagen, auch die Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden (EPBD) zu überarbeiten. Im Gebäudesektor sieht die Kommission Potenzial für Emissionseinsparungen. Gebäude seien für etwa 40 Prozent des Energieverbrauchs in der EU und für 36 Prozent der Treibhausgasemissionen im Energiebereich verantwortlich, heißt es. Deshalb sei es wichtig, dass Häuser und Gebäude in der EU energieeffizienter werden - also Energie wirksamer nutzen.
Dies würde zugleich ärmere Haushalte bei den Energiekosten entlasten und Energiearmut bekämpfen, argumentiert die Kommission. Denn: Menschen, die in Häusern mit schlechter Energieeffizienz leben, haben höhere Energiekosten. In diesen Gebäuden wohnen meist Menschen aus ärmeren Bevölkerungsschichten, sagte Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans.
Was sieht der Vorschlag konkret für Gebäude vor?
Im Kern zielt der Vorschlag darauf ab, den EU-Gebäudesektor ebenfalls auf Linie der Klimaneutralität zu bringen. Bis 2050 sollen sämtliche Gebäude emissionsfrei sein, hat die Kommission als Ziel formuliert. Für Neubauten soll daher gelten: Neue öffentliche Gebäude müssen ab 2027 und alle weiteren (privaten) Neubauten ab 2030 sogenannte Nullemissionsgebäude sein. Das bedeutet, diese Gebäude beziehen per Definition die noch benötigte geringe Energiemenge etwa aus erneuerbaren Energiequellen oder Fernwärme- und Fernkältesystemen. Für Neubauten müsste künftig auch das Emissionspotenzial in Bezug auf ihre Lebensdauer angegeben werden.
Aufgrund der Zielsetzung für 2050 ist es in der Folge notwendig, dass auch die bestehenden Gebäude mit Sanierungen energieeffizienter und später emissionsfrei werden. Zu diesem Zweck möchte die Kommission die Quote der Renovierung erhöhen. Sie setzt dabei auf Mindeststandards, die stufenweise erhöht werden und somit eine Sanierung erforderlich machen. Die Kommission fokussiert sich dabei auf die Gebäude mit der schlechtesten Energieeffizienz und dem damit größten Potenzial für Emissionseinsparungen.
Nach dem Kommissionsvorschlag sollen Gebäude zunächst anhand von Energieausweisen über ihre Energieeffizienz in Klassen von A bis G eingeteilt werden. A entspricht dabei den Nullemissionsgebäuden, in Klasse G landen zum Zeitpunkt der Einführung die 15 Prozent der Gebäude jedes Mitgliedstaates mit der schlechtesten Gesamtenergieeffizienz. In Deutschland existiert bereits ein ähnliches Energieausweissystem.
Anschließend werden die Mindeststandards für die verschiedenen Gebäudetypen schrittweise hochgestuft: So müssten öffentliche Gebäude und Nichtwohngebäude mit einem G-Ausweis bis 2027 mindestens Klasse F und bis 2030 mindestens Klasse E erreichen. Für Wohngebäude würde gelten: Die Häuser aus Klasse G müssten bis 2030 Klasse F und bis 2033 KLasse E erreichen. Anschließend legen die Mitgliedstaaten selbst die weiteren Schritte über nationale Gebäuderenovierungspläne fest, um bis 2050 einen emissionsfreien Gebäudebestand zu gewährleisten.
Sind bei Verstößen Enteignungen oder Nutzungsverbote geplant?
Was passiert, wenn ein Haus nicht entsprechend umgerüstet wird? Da es sich um eine Richtlinie handelt, müssten die Mitgliedstaaten bei einer Überarbeitung erst mal die neuen EU-Vorgaben in nationales Recht übertragen. Die Mitgliedstaaten sind also verantwortlich für die Kontrolle und die Umsetzung. «Der Kommissionsvorschlag gibt den Mitgliedstaaten Flexibilität dabei, welche Maßnahmen sie einführen wollen, um die in der Richtlinie festgelegten Ziele zu erreichen», teilte die Kommission dazu auf dpa-Anfrage mit.
Eine Enteignung von Wohneigentum, Nutzungsverbote oder gar ein Vermietungs- oder Verkaufsverbot sieht der Kommissionsvorschlag nicht vor. Es ist keine Rede davon, dass Gebäude bei einer ausbleibenden Sanierung ab einer Frist nicht mehr bewohnt werden dürfen. Vielmehr heißt es im Artikel 31: «Die Mitgliedstaaten legen fest, welche Sanktionen bei einem Verstoß (...) zu verhängen sind, und ergreifen die zu deren Durchsetzung erforderlichen Maßnahmen.» Diese Sanktionen müssten demnach wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.
Am Ende entscheiden also die einzelnen Staaten, wie sie die EU-Ziele erreichen wollen und was bei Verstößen für Konsequenzen drohen. Denkbar wären zum Beispiel Bußgelder oder Steuererhöhungen für Häuser mit schlechter Energieeffizienz. «Unter keinen Umständen erwartet die Kommission, dass jemand aus einem Haus geworfen wird, um Effizienzvorgaben umzusetzen. Dies wäre völlig unverhältnismäßig», erklärte die EU-Kommission der Deutschen Presse-Agentur.
Wie sieht es mit den Kosten aus?
In einem «Fragen und Antworten»-Text geht die Kommission auf die Finanzierung ein. Grundsätzlich würden sich energetische Renovierungen für die Bürgerinnen und Bürger langfristig von selbst auszahlen, weil «Energierechnungen niedriger ausfallen». Um aber die Umrüstungen anzuschieben und gerade Haushalte mit geringem Einkommen zu unterstützen, sollen EU-Gelder aus verschiedenen Töpfen bereitgestellt werden. Für die Umsetzung der Mindestnormen bis 2030 stehen demnach bis zu 150 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt zur Verfügung. Zudem müssen auch die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass ausreichende Mittel und Unterstützung vorhanden sind.
Darüber hinaus haben Parlament und Rat bereits eine vorläufige Einigung erzielt, einen Klima-Sozialfonds einzurichten. Aus diesem Topf sollen Gelder an einkommensschwache Bürgerinnen und Bürger sowie Kleinunternehmen verteilt werden, die am stärksten von den Maßnahmen des «Fit for 55»-Pakets betroffen sind. Auch aus diesem Topf sollen Gelder für Renovierungen bereitgestellt werden können. Die Finanzierung läuft über Einnahmen im Rahmen des EU-Emissionshandels, den EU-Aushalt und Beiträge der Mitgliedsstaaten.
Welche Kritik gibt es und welche Fragen bleiben offen?
An dem Vorschlag der Kommission gab es bereits nach der Veröffentlichung Kritik. Laut einem damaligen «Der Spiegel»-Bericht, der auch im Youtube-Video eingeblendet wird, äußerte sich etwa der Eigentümerverband Haus und Grund zu dem Vorhaben. Für viele Gebäude der Energieklassen F und G würde eine Sanierung keine Option sein, hieß es. In dem Bericht wird auch der Fachkräfte- und Materialmangel im Handwerk als zentrale Herausforderung für die Umsetzung der geplanten Richtlinie genannt.
Noch ist allerdings offen, wie die Richtlinie über die Energieeffizienz am Ende überarbeitet wird - und wie die Mitgliedstaaten sie am Ende umsetzen. Der Vorschlag der Europäischen Kommission ist lediglich der erste Schritt. Im Oktober 2022 hat der Rat der EU, in dem die Regierungsvertreter der einzelnen Mitgliedsländer sitzen, zu dem Vorschlag Stellung bezogen. So schlägt der Rat beispielsweise vor, dass öffentliche Neubauten erst ab 2028 und nicht schon 2027 emissionsfrei sein sollen. Auch an anderen Stellen unterscheidet sich die Position des Rates von der Kommission.
Das Gesetzgebungsverfahren läuft noch. Als nächster Schritt müssen sich die von den EU-Bürgern gewählten Abgeordneten im Europäischen Parlament auf einen Standpunkt zum Kommissionsvorschlag verständigen. Hat das Parlament Stellung bezogen, beginnen die Trilog-Verhandlungen zwischen dem Rat und dem Parlament unter Vermittlung der Kommission, um einen Kompromiss für die Überarbeitung der Richtlinie zu finden.
(Stand: 1.2.2023)
Links
Pressemitteilung zum Europäischen Klimagesetz (archiviert)
EU-Übersicht zum «Fit for 55»-Paket (archiviert)
Kommissionsvorschlag zur Richtlinien-Überarbeitung (archiviert)
Umweltbundesamt zum Begriff Energieeffizienz (archiviert)
«Fragen und Antworten»-Text zum Kommissionsvorschlag (archiviert)
Rede von Frans Timmermans bei Vorschlagspräsentation (archiviert)
Verbraucherzentrale zu deutschen Energieausweisen (archiviert)
Über das EU-Recht (archiviert)
Pressemitteilung zum geplanten Klima-Sozialfonds (archiviert)
EU-Infografik zum Klima-Sozialfonds (archiviert)
«Der Spiegel»-Bericht vom 16. Dezember 2021 (archiviert)
Pressemitteilung zur Position des Rates (archiviert)
bpb-Erklärung zu den Trilog-Verfahren (archiviert)
bpb-Übersicht über die EU-Organe (archiviert)
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