Rat, Parlament und Co.
EU: Verträge geben Regeln für Wahlen und transparentes Arbeiten vor
15.11.2022, 12:42 (CET)
Seit 2019 ist Charles Michel Präsident des Europäischen Rates; im März dieses Jahres wurde er für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Auf Facebook wird schlicht das Gegenteil behauptet: Der Präsident werde nicht gewählt - ebenso wenig die EU-Kommission. Dem EU-Ministerrat wird unterstellt, nach «Privatregeln» zu handeln und im Geheimen zu arbeiten. Mitglieder des EU-Parlaments dürften keine Gesetze vorschlagen. Das meiste davon ist: nicht haltbar.
Bewertung
Die Behauptungen sind zu weiten Teilen falsch. Die EU-Institutionen werden gewählt und arbeiten bei allen Anliegen transparent, die EU-Bürgerinnen und –Bürger betreffen. Protokolle und Abstimmungsergebnisse sind öffentlich einsehbar. Tatsächlich kann das EU-Parlament Gesetzesvorschläge lediglich abändern, aber nicht selbst einbringen.
Fakten
Die Europäische Union (EU) muss sich an Verträge halten. Darin ist unter anderem verankert, dass die «Wahlverfahren und die Auswahl von Führungskräften für die wichtigsten EU-Institutionen transparent und demokratisch durchgeführt werden müssen». Außerdem gibt es Regelungen zur Arbeitsweise der EU-Institutionen. Ein Überblick:
EU-Rat/Europäischer Rat und EU-Ratspräsident
Der «Vertrag über die Europäische Union» (EUV) befasst sich in Artikel 15 Absatz 5 mit der Wahl des Präsidenten: «Der Europäische Rat wählt seinen Präsidenten mit qualifizierter Mehrheit für eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren.» Er kann einmal wiedergewählt werden.
Laut Facebook-Post hätten die Minister des EU-Rates die Möglichkeit, alle Abkommen und Verträge nach eigenem Ermessen zu behandeln - ohne jegliche Einmischung der Bevölkerung des Landes, das sie vertreten. Zunächst ist hier festzuhalten: Der Europäische Rat setzt sich gemäß Artikel 15 Absatz 2 EUV aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Präsidenten der Kommission zusammen. Minister spielen hier keine Rolle.
Der Vertrag von Lissabon reformierte den Vertrag über die Europäische Union. Artikel 48 befasst sich mit dem Änderungsverfahren von Verträgen. Der Europäische Rat kann nach Anhörung anderer EU-Organe eine Prüfung der Änderungen veranlassen. Es gibt dann aber mindestens eine Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, die über die Änderungen beraten. Nur wenn alle Mitgliedsstaaten zustimmen, wird die Änderung angenommen. Eine Befragung der Bevölkerung ist hier zwar nicht vorgesehen. Sie ist aber durchaus möglich und hat in der Vergangenheit auch stattgefunden, falls das in nationalem Recht vorgesehen ist.
Es ist wichtig, die unterschiedlichen EU-Organe nicht zu verwechseln. Der Europäische Rat darf sich beispielsweise beraten, wer als Kandidat für das Amt des Präsidenten der Kommission in Frage kommt. Eine Wahl findet aber trotzdem auch hier statt, wie in Artikel 17 Absatz 7 EUV festgelegt ist: «Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.»
EU-Kommission und EU-Parlament
Die EU-Kommission besteht aus dem EU-Kommissionspräsidenten sowie je einem Vertreter eines Mitgliedstaates. Der Präsident oder die Präsidentin wird vom Europäischen Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt (Artikel 15 Absatz 1 EUV). Der Vorschlag dafür kommt aus dem Europäischen Rat.
Die Mitglieder der Kommission werden «aufgrund ihrer allgemeinen Befähigung und ihres Einsatzes für Europa» ausgewählt (Artikel 17 Absatz 3 EUV). Sie müssen sich einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen, das so Einfluss auf das Wahlverfahren der Kommissare nehmen kann (Artikel 17 Absatz 7 EUV). In der Vergangenheit sind mehrfach Kandidaten für einen Kommissarsposten am Widerstand des Parlaments gescheitert.
Über das EU-Parlament wird außerdem behauptet, die Mitglieder dürften keine Gesetze, Verordnungen oder Statuten vorschlagen, sondern nur Zusatzartikel für einen Gesetzesentwurf. Die EU-Kommission entscheide dann, welche Anregungen berücksichtigt werden. Das ist korrekt.
Der Ablauf der Gesetzgebung ist in Artikel 294 des «Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union» (AEUV) festgelegt. Die Gesetzgebungsinitiative liegt demnach bei der Kommission. Das Europäische Parlament kann den Gesetzgebungsvorschlag im Anschluss billigen, ablehnen oder Änderungen daran vorschlagen. Auch der Rat der Europäischen Union darf seine Meinung einbringen. Bei vorgenommenen Änderungen kann die Kommission Stellung beziehen und diese auch ablehnen.
Rat der EU/EU-Ministerrat
Über den Ministerrat wird behauptet, er folge bei der Entscheidung über Gesetze «Privatregeln der qualifizierten Mehrheit». Dadurch dominierten die vier größten Mitgliedsregierungen. Er arbeite zudem geheim. Warum auch diese Behauptungen nicht haltbar sind:
Eine qualifizierte Mehrheit kommt zustande, wenn 55 Prozent der Mitgliedstaaten für einen Vorschlag stimmen. Gleichzeitig müssen so viele Mitgliedsstaaten den Vorschlag annehmen, dass die zugehörigen Einwohnerzahlen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen (Artikel 16 Absatz 4 EUV). Praktisch müssen 15 von 27 Mitgliedsstaaten einem Vorschlag zustimmen.
Die Tagungen des Rats der EU sind öffentlich, wenn er über Entwürfe von Gesetzgebungsakten berät oder abstimmt. Er tagt «auch dann öffentlich, wenn die Ministerinnen und Minister eine Aussprache über wichtige Fragen, die die EU und ihre Bürgerinnen und Bürger betreffen, führen, oder wenn sie über das Arbeitsprogramm des Rates, die Prioritäten des Vorsitzes sowie das Arbeitsprogramm und die Strategieplanung der Kommission beraten».
Die Ergebnisse der Abstimmungen des Rates werden automatisch veröffentlicht, wenn er als Gesetzgeber tätig wird. Die Abstimmungsergebnisse können auf einer Seite der EU eingesehen werden - ebenso die Protokolle öffentlicher Ratstagungen sowie Tagesordnungen.
Der Rat arbeitet regelmäßig mit sensiblen Informationen. Zu deren Schutz existiert ein umfassendes Sicherheitssystem. Für EU-Verschlusssachen gibt es vier Geheimhaltungsgrade - je nachdem, wie schwerwiegend die Auswirkungen einer Offenlegung wären. Die Schutzstandards gelten für den Rat und sein Generalsekretariat und müssen auch von den Mitgliedstaaten beachtet werden.
(Stand: 15.11.2022)
Links
Grundsätze bei Ernennungen für EU-Institutionen (archiviert)
Qualifizierte Mehrheit (archiviert)
Vertrag über die Europäische Union (archiviert)
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (archiviert)
Vertrag von Lissabon (archiviert)
Kommissionsmitglieder (archiviert)
Übertragung der öffentlichen Sitzungen
Suche nach Abstimmungsergebnissen (archiviert)
Transparenz EU-Ministerrat (archiviert)
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