Weimarer Republik

Historische Verordnung enthält keine solchen Sätze über Flüchtlinge

24.10.2022, 10:10 (CEST)

Ein angeblich historischer Text soll zeigen, wie in der Weimarer Republik mit Flüchtlingen umgegangen wurde. Doch die Verordnung, die hier dargestellt sein soll, hat einen anderen Wortlaut.

Im Herbst 2022 gibt es in Deutschland und Europa wieder eine größere Debatte über den Umgang mit Geflüchteten. Vor diesem Hintergrund kursiert in sozialen Netzwerken ein angeblicher Gesetzestext aus der Zeit der Weimarer Republik. In einem Sharepic heißt es: «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!» Weiter steht in dem offiziell klingenden und vermeintlich von einem vergilbten Papier abfotografierten Textschnipsel, «alle arbeitsfähigen Flüchtlinge» seien zu gemeinnütziger Arbeit verpflichtet worden. Dabei soll es sich um die «Fürsorgepflichtverordnung in der Weimarer Republik» handeln.

Bewertung

Der Text ist nicht die genannte «Verordnung über die Fürsorgepflicht». Im Original aus dem Jahr 1924 findet sich keine Passage mit diesem Wortlaut. Die vermeintlich den Sinn zusammenfassende Zwischenüberschrift ist ein abgewandeltes Zitat aus der Bibel.

Fakten

Es gibt tatsächlich eine «Verordnung über die Fürsorgepflicht» aus dem Jahr 1924. Doch darin findet sich der nun kursierende Wortlaut nicht. Den in dem Text genannten Paragrafen 19 gibt es zwar, und er legt Regelungen zur Arbeit fest. Aber es handelt sich um andere Sätze und auch einen leicht anderen Inhalt. Das Original lautet: «Die Unterstützung Arbeitsfähiger kann in geeigneten Fällen durch Anweisung angemessener Arbeit gemeinnütziger Art gewährt oder von der Leistung solcher Arbeit abhängig gemacht werden [...].» Der Begriff «Flüchtlinge» und auch die erwähnte Altersspanne tauchen in dem Paragrafen nicht auf. Er bezieht sich auf alle Menschen und Gruppen, die damals Fürsorge bezogen.

Auch in den «Reichsgrundsätzen über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge» aus demselben Jahr gibt es diesen Wortlaut nicht - ebenso wenig in späteren Änderungsverordnungen und -gesetzen. Auch in der Ausführungsverordnung zur Fürsorge des damals größten deutschen Landes Preußen stehen diese Sätze nicht.

Darüber hinaus gibt es zwei Formulierungen, die gegen die Authentizität des Sharepics sprechen:

  • Zum einen ist «Weimarer Republik» eine Bezeichnung, die erst später für die in Weimar begründete deutsche Demokratie zwischen 1919 und 1933 gebräuchlich wurde. Es handelte sich nicht um eine zeitgenössische Ausdrucksweise - vor allem nicht in juristischen Texten, in denen die amtliche Bezeichnung «Deutsches Reich» vorherrschte.
  • Zum anderen ist die vorangestellte, den weiteren Text offenbar zusammenfassende Aussage «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!» für einen juristischen Text ungewöhnlich. Es handelt sich um ein leicht abgewandeltes Zitat aus der Bibel. Im 2. Paulusbrief an die Thessalonicher heißt es in der Einheitsübersetzung von 2016: «Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.» Der Bibeltext ist immer wieder auch in politischen Kontexten zitiert worden, etwa in der ab 1936 geltenden Verfassung der Sowjetunion - ebenfalls ohne das Verb «wollen». Doch in der deutschen Verordnung von 1924 findet er sich nicht.

In der tatsächlichen «Verordnung über die Fürsorgepflicht» wurde für das damalige Deutsche Reich die sogenannte Fürsorge geregelt - vergleichbar mit der heutigen Sozialhilfe. Die Verordnung und damit die Fürsorge in der Weimarer Republik umfasste auch Menschen, die geflüchtet waren - aber nicht ausschließlich. Sie formulierte auch keine speziellen Regeln für diese Gruppe.

Migration war zur Zeit der Weimarer Republik ein wichtiges Thema. Deutschland hatte im Ersten Weltkrieg Gebiete verloren. «Flüchtlinge» bezog sich damals zumeist auf Menschen, die aus diesen Gebieten vertrieben wurden. Sie wurden auch «Heimkehrer» genannt und lebten gerade zu Beginn der Republik oft in Lagern.

Auch die Fürsorgepflichtverordnung erwähnt diese Gruppen als möglicherweise Anspruchsberechtigte. In Paragraf 12 ist die Rede vom «freiwilligen oder erzwungenen Übertritt aus dem Ausland» von «Deutschen, staatslosen ehemaligen Deutschen oder staatslosen Personen deutscher Abkunft». In den Reichsgrundsätzen von 1924 werden zudem Ausländer als eine Gruppe genannt, die Fürsorge erhalten kann. Der Begriff «Flüchtlinge» wird für sie aber nicht verwendet.

Paragraf 19 der Verordnung sah Arbeit als eine mögliche Bedingung für den Erhalt von Fürsorge vor. Nach Angaben von Christian Rolfs, Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität zu Köln, war ein Grund für diese Einschränkung, dass bis 1924 weitere Fürsorgesysteme für andere Gruppen eingeführt worden waren - etwa für Kriegsopfer, die dann nicht unter die Fürsorgepflichtverordnung fielen.

Die Umsetzung im Details der Verordnung lag nicht bei der Reichsregierung. «Die Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Maß der gewährten Fürsorge waren nicht reichseinheitlich geregelt, sondern Sache der Länder», sagte Rolfs der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Deutsche Länder wie das damalige Preußen sind als Verwaltungseinheiten mit den heutigen Bundesländern vergleichbar.

Worum es sich bei dem nun online kursierenden Text genau handelt, ist unklar. Möglich ist, dass Teile davon eine regionale oder lokale Regelung sind. Denkbar ist auch, dass es sich um einem journalistischen oder politischen Text handelt, der Regeln der Fürsorge und das Thema Flüchtlinge verknüpfte - mit einem abgewandelten Bibelzitat als Zusammenfassung.

(Stand: 21.10.2022)

Links

Verordnung über die Fürsorgepflicht von 1924 im Reichsgesetzblatt (archiviert)

Paragraf 19 der Verordnung (archiviert)

Reichsgrundsätze zur Fürsorge von 1924 (archiviert)

Gesetzessammlung mit Ausführungsverordnung des Landes Preußen von 1924 (kostenpflichtig) (archiviert)

Hintergrund zur Weimarer Republik (archiviert)

Bibelstelle 2. Thessalonicher 3,10 (archiviert)

Verfassung der Sowjetunion von 1936 (archiviert)

Informationen zu Vertriebenen in der Weimarer Republik (archiviert)

Paragraf 12 der Verordnung (archiviert)

Beitrag auf Facebook (archiviert)

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