Irreführende Zuspitzung
Nur ein Teil polnischer Gas-Importe kommt aus Deutschland
27.7.2022, 10:31 (CEST)
Während sich die Politik auf einen möglichen Stopp von Gaslieferungen aus Russland vorbereitet, sorgen sich viele Deutsche um steigende Energiepreise. In sozialen Medien wird im Zusammenhang mit der Energiekrise nahe gelegt, dass dabei angeblich auch Exporte in andere Länder eine Rolle spielen: «Polens Gasspeicher sind jetzt zu fast 100% voll. Wie ist das möglich? Ganz einfach. Polen bezieht über die Jamal seit Monaten Gas aus deutschen Speichern», heißt es in einem Facebook-Beitrag (archiviert). An anderer Stelle wird noch konkreter behauptet: «Polnische Gasspeicher zu 100 Prozent voll... ...mit Gas aus der BRD. Während die Gaspreise in der BRD aus Mangel an verfügbarem Gas explodieren, wird es aus der BRD nach Polen exportiert. Zudem soll Putin angeboten haben, die durch Sanktionen gedrosselte Nord Stream 1 vertraglich zugesagte Gasliefermenge über die Nord Stream 2 auszugleichen. Was allerdings abgelehnt worden sei.» Was ist da dran?
Bewertung
Die Behauptungen stellen den Gas-Handel irreführend dar. Lieferungen von Gas aus Deutschland nach Polen machen nur einen Teil der polnischen Importe aus. Wie viel davon in Speicher wandert, lässt sich nicht nachvollziehen. Polens Gasspeicher sind zwar fast voll, aber auch vergleichsweise klein - in Deutschland lagert trotz niedrigerem Füllstand derzeit mehr als vier Mal so viel Gas in den Speichern.
Fakten
Korrekt ist, dass Polens Gasspeicher fast voll sind. Auf der Plattform des Europäischen Verbands für Gasinfrastruktur (GIE) wird der Füllstand am 20. Juli mit 97,99 Prozent angegeben. Am 25. April - kurz bevor Russland seine Gaslieferungen nach Polen stoppte - lag der Füllstand bei 75,95 Prozent.
Allerdings sind Polens Gasspeicher auch nicht sehr groß und damit schneller voll als die deutschen: Zurzeit werden dort rund 36.000 TWh (Terawattstunden) vorgehalten. Zum Vergleich: In Deutschland werden bei rund 65 Prozent Füllstand derzeit rund 158.000 TWh Gas gelagert. Deutschland verfügt in Mittel- und Westeuropa über die größten Speicherkapazitäten für Erdgas.
Auch korrekt ist, dass polnische Gashändler im deutschen Netz Gas einkaufen können. Es wird dann über die Verdichtungsstation Mallnow (Brandenburg) des deutschen Netzbetreiber-Unternehmens Gascade geleitet. Diese Station kann sowohl Erdgas, das von Osten über die Pipeline Jamal kommt, in Richtung Westdeutschland leiten, als auch Gasströme in die entgegengesetzte Richtung nach Polen. Wie viel Gas durch die Station Richtung Polen fließt, lässt sich tagesaktuell auf einem Gascade-Portal nachsehen, wenn man dort die Transportdaten für die Station in Mallnow betrachtet.
Was diese Zahlen allerdings nicht verraten: Erstens was mit dem eingekauften Gas in Polen passiert - also ob es verbraucht wird, in den Speicher wandert oder sogar weiter verkauft wird. «Die Durchflussmenge verrät nichts über den Verwendungszweck. Wir wissen nicht, warum ein polnischer Händler entscheidet, wie viel Gas er nominiert», sagte eine Gascade-Sprecherin der Deutschen Presse-Agentur (dpa). «Nominieren» ist die Festlegung der Gasmenge im Transportvertrag, den Händler mit den Netzbetreibern abschließen.
Zweitens lässt sich nicht sagen, das Gas käme «aus deutschen Speichern». Denn das lässt sich nicht eindeutig festlegen, denn so funktioniert der Gasmarkt nicht. In das Gasnetz wird der Energieträger kontinuierlich von Lieferanten und Produzenten eingespeist, dann weitergeleitet und verkauft. Unternehmen betreiben hier freien Handel und verkaufen dorthin, wo sie hohe Preise erzielen. Auch Betreiber von Gasspeichern können Gas einspeisen oder wieder entnehmen. Speicher dienen als Puffer in Zeiten von hohem Bedarf. Aber es lässt sich nicht sagen, dass eine bestimmte Menge, die durch eine bestimmte Station wie im brandenburgischen Mallnow Richtung Polen fließt, ausschließlich aus den Speichern kommt.
Drittens verraten die Daten aus Mallnow nicht, welcher Anteil des in Deutschland eingekauften Gases tatsächlich ursprünglich aus Russland kommt. «Wir transportieren das Gas, was im System ist, das kann aus Russland kommen, aus den Niederlanden oder aus Norwegen», erklärte die Gascade-Sprecherin der dpa. Ähnlich hatte sich bereits Polens Klima- und Umweltministerin Anna Moskwa geäußert: «Das Gas, das Polen aus Deutschland importiert, ist eine Mischung aus Gasen, die auf dem Markt gekauft werden. Es handelt sich nicht nur um russische Gasmoleküle», sagte Moskwa im Mai dem Portal «Euractiv» zufolge.
Die Schlussfolgerung, Polen habe seine Speicher allein mit Gas aus Deutschland gefüllt, ist also nicht haltbar. Es gibt dafür keine Belege. Polen bezieht Berichten zufolge außerdem Gas aus Litauen oder über ein Flüssiggasterminal in Swinoujscie.
Ende April sagte ein Sprecher des russischen Gasunternehmens Gazprom der russischen Agentur Interfax zufolge, dass täglich rund 30 Millionen Kubikmeter Gas aus Deutschland zurück nach Polen flössen (etwa 300 Mio. kWh). Dieser Wert schwankt allerdings stark. So hoch wie vom Gazprom-Sprecher beschrieben lag er nur einige Tage Ende April, wie aus dem Gascade-Portal hervorgeht. Im Juli lag er meist etwa zwischen 50 und 100 Millionen kWh pro Tag. Über 200 Millionen waren es zuletzt Ende Mai. Polens gesamter Erdgasverbrauch im Jahr 2021 wird in einem Bericht der deutschen Außenwirtschaftsagentur GTAI mit 23,3 Milliarden Kubikmetern angegeben (entspricht etwa 233 Milliarden kWh).
Dabei ist es auch nichts Neues oder Ungewöhnliches, dass Gas über Deutschland nach Polen fließt. Eine Gascade-Sprecherin bezeichnete das bereits im Dezember 2021 als «nichts Außergewöhnliches». Im Jahr 2020 kam laut der EU-Statistikbehörde Eurostat etwa ein Fünftel der polnischen Gas-Importe aus Deutschland.
Es ist korrekt, dass Russlands Präsident Wladimir Putin auf die bisher nicht in Betrieb genommene Pipeline Nord Stream 2 als Alternative für Nord Stream 1 hingewiesen hat. Die Bundesregierung bekräftigte vergangene Woche als Reaktion ihre Position: die Pipeline sei nicht zertifiziert und damit rechtlich nicht zugelassen. Zudem ist Nord Stream 2 von den USA mit Sanktionen belegt - die würde Deutschland bei einer Inbetriebnahme brechen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte das Genehmigungsverfahren für die Pipeline am 22. Februar bis auf weiteres gestoppt, nachdem Wladimir Putin die Unabhängigkeit der Separatistenregionen Donezk und Luhansk in der Ostukraine anerkannt und eine Entsendung russischer Soldaten angeordnet hatte. Bereits das wurde als Verstoß gegen das Völkerrecht gewertet, danach erfolgte der russische Angriff auf die Ukraine.
(Stand: 26.07.2022)
Links
Aktuelle und historische Daten zu Gasspeichern in Europa
Informationen über die Verdichterstation Mallnow (archiviert)
Gascade-Portal mit Informationen über Durchflussmengen (Auswahl Mallnow Entry/Exit)
dpa-Bericht über Folgen des Gasstopps von Russland nach Polen, April 2022, veröffentlicht von «idowa.de» (archiviert)
dpa-Bericht über Gasspeicher, veröffentlicht von «web.de» (archiviert)
Informationen über den Gasmarkt auf der Seite des Energieunternehmens EnBW (archiviert)
Bericht von «Euractiv» mit Aussagen polnischer Klimaministerin Anna Moskwa (archiviert)
dpa-Bericht über Äußerungen des Gazprom-Sprechers zu Polen Gas-Einkäufen, April 2022, veröffentlicht von der «Berliner Zeitung» (archiviert)
Bericht von «Germany Trade & Invest» über Polens Ausbau von Gas-Infrastruktur (archiviert)
Bericht von «Euractiv» über polnische Gasimporte aus Litauen (archiviert)
Bericht über Polens Importe von Flüssiggas (archiviert)
dpa-Bericht über Gastransfer nach Polen im Dezember 2021, veröffentlicht auf «SZ.de» (archiviert)
Eurostat zu Gas-Importen nach Polen 2020 (archiviert)
dpa-Bericht über Putins Äußerungen zu Nord Stream 2, veröffentlicht vom «Hamburger Abendblatt» (archiviert)
dpa-Bericht über vorläufigen Stopp von Nord Stream 2, veröffentlicht von der «Badischen Zeitung» (archiviert)
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