Aus dem Zusammenhang gerissen

Lauterbach-Zitat zum «Ausnahmezustand» bezieht sich auf Klimakrise

05.07.2022, 14:47 (CEST), letztes Update: 26.07.2022, 15:32 (CEST)

Zitate bekommen eine ganz neue Bedeutung, wenn man sie aus dem Zusammenhang reißt und Vergleiche anstellt, die hinken. Das ist mit einer Aussage von Karl Lauterbach und einer von Willy Brandt geschehen, in denen es um «Ausnahmezustand» und «Notstand» geht.

Der Satz klingt vor allem in den Ohren vieler Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen wie eine Drohung - Gesundheitsminister Karl Lauterbach soll gesagt haben: «Wir kommen jetzt in eine Phase hinein, wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird. Wir werden ab jetzt immer im Ausnahmezustand sein.» Gewissermaßen als Antwort daneben steht ein Zitat Willy Brandts, in dem er warnt, wer mit «dem Notstand spiele» fände ihn und seine Freunde «auf den Barrikaden» (archiviert). Doch beide sprechen über ganz unterschiedliche Dinge.

Bewertung

Die Zitate sind echt, doch es fehlen wichtige Hintergrundinformationen. Karl Lauterbach sprach über die Klimakrise und ihre Folgen - etwa mögliche neuen Pandemien oder Kriege. Willy Brandts Aussage hingegen gehört in die Diskussion um einen rechtlich definierten Notstand im Verteidigungsfall, welcher der Regierung gegenüber Parlament und Bevölkerung besondere Befugnisse verleiht.

Fakten

Karl Lauterbach hat sich tatsächlich so geäußert, das Gespräch fand im März 2022 in Berlin statt und wurde vom RBB-Sender Radio Eins veranstaltet. Die nun kursierende Aussage von Lauterbach ist eingebettet in weitere Sätze von ihm - und stellt eine Reaktion auf eine Wortmeldung der Ökonomin Claudia Kemfert dar, die mit Lauterbach diskutierte.

Kemfert spricht über verschiedene Krisen, die aus ihrer Sicht miteinander zu tun haben: Die Corona-Pandemie, die Energieversorgung, die bedrohte Biodiversität und auch der Ukraine-Krieg. Kurz vor Lauterbach sagt Kemfert unter anderem: «Es gibt kein Zurück zur Normalität mehr. Das ist unsere neue Normalität. Und diese neue Normalität müssen wir leben und mit der müssen wir auch umgehen.»

Den Begriff «Normalität» greift Lauterbach dann auf: «Ich stimme zu: Wir kommen jetzt in eine Phase hinein, wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird. Wir werden ab jetzt immer im Ausnahmezustand sein. Der Klimawandel wird zwangsläufig mehr Pandemien bringen. Mehr Pandemien werden die Wirtschaft belasten, also unterbrechen. Wir kommen in eine Situation des globalen Wassermangels hinein und Kriege für Wasser sind fast unvermeidbar. Es sind riesige Wanderungen zu erwarten. Früher hat man gedacht, es wird Krieg um Öl geben. Die viel größere Wahrscheinlichkeit ist Krieg um Wasser.»

Auch Lauterbach spricht also vor allem im Zusammenhang mit der zuvor erwähnten Klimakrise über einen «Ausnahmezustand». Im Kontext zeigt sich aber, dass er nicht über einen irgendwie politisch oder rechtlich definierten Ausnahmezustand spricht. Vielmehr geht es um eine neue Situation, in der bislang als Katastrophe empfundene Ereignisse normal werden.

Das Zitat des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt auf der rechten Seite der Text-Bild-Kachel gehört in einen völlig anderen Zusammenhang. Brandt äußerte sich einem damaligen Medienbericht zufolge tatsächlich so - und zwar im Jahr 1968, als er noch Vizekanzler in einer Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) war. Er bezog sich im Bundestag jedoch konkret auf von der Regierung geplante Änderungen des Grundgesetzes, die unter dem zusammenfassenden Begriff «Notstandsgesetze» diskutiert wurden.

Diesen Gesetzen waren mehrere Jahre politischen und gesellschaftlichen Streits vorausgegangen. Definiert wurde darin, welche Befugnisse Regierung und Sicherheitskräfte bekämen, wenn der Bundestag entweder den «Verteidigungsfall» oder den «Spannungsfall» ausruft. Ersterer kann ausgerufen werden, wenn die Bundesrepublik Deutschland «mit Waffengewalt angegriffen» wird. Letzterer ist im Gesetz nicht klar definiert, beschreibt dem wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zufolge aber eine Situation, in der die außenpolitische Lage einen solchen Angriff sehr wahrscheinlich macht.

In beiden Fällen bekommen Bundesregierung, Bundeswehr und Sicherheitskräfte weitreichende Befugnisse im Inneren, die hauptsächlich in Artikel 87a und Artikel 91 des Grundgesetzes beschrieben werden. Letzterer gilt auch als Rahmen für den sogenannten «inneren Notstand», in dem der Bund oder einzelne Bundesländer die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht mehr garantieren können.

Die vorgesehenen Grundrechtseinschränkungen in Krisensituationen wurden etwa von der damaligen Studentenbewegung stark kritisiert. Brandt warb mit seinem Satz um die Stimmen von Zweiflern in seiner Fraktion: «Wer einmal mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken, wird meine Freunde und mich auf den Barrikaden zur Verteidigung der Demokratie finden, und dies ist ganz wörtlich gemeint.»

Die «Notstandsgesetze» traten im Sommer 1968 in Kraft, angewendet wurden sie bislang aber nie - auch nicht in der Corona-Pandemie.

Die Text-Bild-Kachel mit dem Vergleich der beiden Zitate geht auf einen AfD-Politiker zurück, der es im März auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht hatte. Es wurde später unter anderem von der Politikwissenschaftlerin und prominenten Corona-Maßnahmengegnerin Ulrike Guérot mit dem Zusatz «Netzfundstück» auf Twitter verbreitet.

(Stand: 30.6.2022)

Links

RBB-Podiumsdiskussion mit Kemfert und Lauterbach (13.3.2022) (archiviert)

Deutschlandfunk-Bericht über Zusammenhang von Klima und Pandemien (12.5.2022) (archiviert)

«Spiegel»-Bericht mit Brandt-Zitat (2.6.1968) (archiviert)

Deutscher Bundestag über «Notstandsgesetze» von 1968 (23.5.2018) (archiviert)

Deutscher Bundestag zum rechtlichen Rahmen des Verteidigungsfalls (archiviert)

Artikel 87a des Grundgesetzes (archiviert)

Artikel 91 des Grundgesetzes (archiviert)

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags zu Verteidigunsfall, Spannungsfall und Notstand (archiviert)

Facebook-Beitrag von AfD-Politiker Marc Bernhard (archiviert)

Tweet von Ulrike Guérot (archiviert)

Beitrag auf Facebook (archiviert)

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