Ramsay-Hunt-Syndrom

Rechenfehler bei Impfrisiko: Ursache für Biebers Lähmung ungekannt

20.06.2022, 14:56 (CEST)

Es ist wie ein Reflex. Kaum macht ein Prominenter eine Erkrankung öffentlich, haben Impfskeptiker die immer gleiche Erklärung parat: Der Impfstoff muss schuld sein. Diesmal trifft es Justin Bieber.

Justin Bieber richtet sich in einer Videobotschaft auf Instagram an seine Fans und führt vor, dass er durch eine Lähmung auf einer Seite seines Gesichts weder blinzeln noch lächeln kann. Er spricht von einem «ziemlich ernsten Zustand» und muss sogar seine Tour abbrechen. Obwohl der Sänger keine weiteren Details nennt, wird kurz darauf im Netz die Corona-Impfung als möglicher Grund für seine Krankheit genannt. Dabei wird auf eine Studie verwiesen, der zufolge eine derartige Lähmung «nach einer COVID-Impfung 160-mal wahrscheinlicher ist als bei allen anderen Impfstoffen zusammen in einem bestimmten Jahr» sein soll.

Bewertung

Die Zahlen wurden auf Basis unbrauchbarer Daten errechnet. Es gibt keine Beweise, dass Biebers Erkrankung auf eine Impfung zurückzuführen ist.

Fakten

Gesichtslähmungen werden häufig durch das Herpes-simplex-Virus oder das Varicella-Zoster-Virus ausgelöst, wie Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, auf Anfrage der der Deutschen Presse-Agentur erläutert. Letzteres ist verantwortlich für die Kinderkrankheit Windpocken und verursacht bei Erwachsenen häufig Gürtelrose.

Bieber erklärt im Video, dass er am Ramsay-Hunt-Syndrom leidet. Dieses Syndrom ist eine Ausprägung der Gürtelrose. Tritt diese im Ohr auf, kann sie sich durch eine Lähmung im Gesicht bemerkbar machen.

Berlit betont, dass Gesichtslähmungen und eine Gürtelrose keine seltenen Krankheiten sind. Vor allem in der Grippesaison komme es häufig vor, dass die Gürtelrose-Viren reaktiviert werden. Er sieht keinen direkten Zusammenhang mit einer Corona-Impfung. Das Paul Ehrlich Institut gab 2021 auch eine Entwarnung, weil sich keine eindeutige Häufung einer Gesichtslähmung nach Corona-Impfung zeigte.

Im Facebook-Post und der dort verlinkten Studie heißt es im Widerspruch dazu jedoch, dass es nach einer Covid-Impfung 160-mal wahrscheinlicher sei, am Ramsay-Hunt-Syndrom zu erkranken. Diese Zahl findet sich auch im Newsletter von Steve Kirsch. Der als Impfgegner bekannte Kirsch rechnet mit den Zahlen des Vaccine Adverse Event Reporting System (VAERS), einem Meldesystem für Impfnebenwirkungen. Jeder kann dort angeben, was nach einer Impfung mutmaßlich von dieser ausgelöst worden sein könnte.

Auf der Website des VAERS wird darauf hingewiesen, dass die gemeldeten Nebenwirkungen keinen Kausalzusammenhang mit einer Impfung haben müssen. Die Zahlen seien daher mit Vorsicht zu genießen. Das hinderte Kirsch nicht daran, seine Berechnungen auf Basis von VAERS-Daten, die bis ins Jahr 1990 zurückreichen, durchzuführen.

Diese Daten vergleicht Kirsch mit gesicherten Werten zur Inzidenz von RHS und kommt so auf die von ihm propagierten 99 Prozent Wahrscheinlichkeit für eine Covid-Impfung als Ursache für Biebers gesundheitliche Probleme. Dabei lässt er etwa außer Acht, dass durch die mediale Berichterstattung seit 2021 um ein Vielfaches mehr Privatpersonen Impfnebenwirkungen melden als zuvor.

Neurologe Berlit erklärt, dass ein Zusammenhang zwischen Impfung und Gesichtslähmung nur dann diskutiert werden kann, wenn ein zeitlicher Zusammenhang gegeben ist. Impfnebenwirkungen treten in der Regel innerhalb von sechs Wochen nach der Impfung auf. Wann Bieber geimpft wurde, ist zum aktuellen Zeitpunkt nicht bekannt, eine Anfrage der Deutschen Presse-Agentur blieb unbeantwortet.

Bekannt ist jedoch, dass Bieber im Februar 2022 an Corona erkrankte. Diese Infektion kann eine solche Lähmung auslösen, allerdings meist innerhalb von vier Wochen nach dem positiven Corona-Test. Diese Zeitspanne ist bei Bieber lange überschritten.

Wie Berlit betont, wird bei Personen im Alter über 60 Jahren die Impfung gegen Varizella-Zoster-Viren empfohlen, um das Risiko einer Gürtelrose und damit auch eines Ramsay-Hunt-Syndromes zu verringern. Bei jüngeren Menschen könnte ein Antikörpertest helfen, festzustellen, ob eine zu geringe Immunität gegen das Virus vorliegt und womöglich eine Impfung gegen dieses Virus sinnvoll ist.

(Stand: 14.6.2022)

Links

Studie zur Impfung und Neurologische Nebenwirkungen(archiviert)

Instagram-Post Justin Bieber (archiviert)

Facebook-Post (archiviert)

Deutsche Gesellschaft für Neurologie (archiviert)

Steve Kirsch (archiviert)

VAERS Limitations (archiviert)

Studie zu Ramsay-Hunt-Syndrom (archiviert)

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