Gericht erklärte 2012 nur ein bestimmtes Wahlgesetz für verfassungswidrig
25.5.2022, 17:02 (CEST)
Mit einer Änderung des Wahlrechts wollen Abgeordnete von SPD, Grünen und FDP zurzeit den Bundestag wieder auf die vorgesehenen 598 Sitze verkleinern. Durch Überhangs- und Ausgleichsmandate ist er mit 736 Mandaten aktuell so groß wie nie zuvor.
Es verbreitet sich jedoch immer wieder die unter «Reichsbürgern» beliebte Falschbehauptung, es gebe in der Bundesrepublik grundsätzlich keine gültigen Wahlen. Als vermeintlicher Beleg wird auf einen Beitrag in der «Tagesschau» vom 25. Juli 2012 verwiesen. «Urteil BVerfG: Wahlen & Gesetze seit 1956 ungültig», soll es dort geheißen haben (archiviert, Video). Doch worum ging es in dem Urteil tatsächlich?
Bewertung
Das Urteil des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 bezog sich allein auf die damals jüngste und noch nicht angewandte Fassung des Bundeswahlgesetzes. Es hatte keine Auswirkungen auf zurückliegende Wahlen.
Fakten
Das Bundesverfassungsgericht beschäftigte sich im Jahr 2012 nicht zum ersten Mal mit dem Bundeswahlgesetz. Bereits im Juli 2008 hatte es die Regelungen, nach denen im Jahr 2005 der Bundestag gewählt worden war, als verfassungswidrig bewertet.
Der «Tagesschau»-Beitrag vom 25. Juli 2012 stammt aus einer Nachmittagsausgabe, doch auch in der 20-Uhr-Sendung ging es um die Entscheidung des Verfassungsgerichts. Diese hatte keine nachträglichen Auswirkungen auf frühere Wahlen oder frühere Wahlgesetze. «Verfahrensgegenstand waren allein die Regelungen in der Fassung von 2011», teilte ein Pressesprecher des Bundesverfassungsgerichts der Deutschen Presse-Agentur (dpa) mit.
Die einstige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff, die an der Urteilsfindung mitwirkte, bestätigt das. Schon im ersten Urteil (von 2008) habe das Gericht ausdrücklich erklärt, dass damit die Wahl von 2005 nicht für ungültig erklärt werde, sagte Lübbe-Wolff.
Zudem werde über die Gültigkeit einer Wahl ausschließlich in einem Wahlprüfungsverfahren entschieden, fügte sie auf dpa-Anfrage hinzu. Auch in einem solchen Verfahren führe nicht jeder festgestellte Fehler zwangsläufig zur Ungültigkeit der Wahl. Die Behauptungen, der Rechtsstaat sei in Deutschland seit 1956 erloschen und es habe seither keine einzige gültige Wahl gegeben, «sind daher grob falsch», so die einstige Verfassungsrichterin.
In den früheren Urteilen zum Bundeswahlgesetz beanstandeten die Karlsruher Richter vor allem den paradoxen Effekt des «negativen Stimmgewichts». Diese ist eng mit Überhangmandaten verwoben. Solche fallen an, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr dort nach dem Zweitstimmenanteil zustünden.
Die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung versuchte nach dem Urteil von 2008, die Überhangmandate zu neutralisieren. Doch ihre komplizierte Lösung vergrößerte das Problem eher noch. Ein Zusammenschluss aus SPD, Grünen und mehr als 3000 Bürgern klagte gegen die Wahlrechtsreform von 2011. Und die Verfassungsrichter gaben am 25. Juli 2012 der Klage statt: Auch diese Novellierung des Wahlgesetzes kollidiere mit dem Grundgesetz.
Die Schwächen des Bundeswahlgesetzes sind bis heute nicht vollständig getilgt. 2013 beschloss der Bundestag die nächste Variante. Der Effekt des «negativen Stimmrechts» wurde verhindert und Überhangmandate wurden ausgeglichen; dadurch allerdings wuchs der Bundestag enorm an.
2020 beschloss die große Koalition darum unter anderem, dass Überhangmandate künftig erst nach dem dritten solchen Mandat ausgeglichen werden. Außerdem werden Überhangmandate einer Partei teilweise mit ihren Listenmandaten verrechnet.
Eine grundlegende Reform steht zur Wahl 2025 an; dann soll die Zahl der Wahlkreise und mit ihr die der Mandate sinken. Die Ampel-Koalition hat dazu im Mai 2022 einen Vorschlag gemacht. Der Fraktionsvorsitzende der Union, Friedrich Merz, kündigte einen Gegenvorschlag an.
Grundsätzlich gilt für Urteile des Bundesverfassungsgerichts: Es ist kaum möglich, dass eine einzige Entscheidung viele längst getroffene Regelungen ungültig machen könnte. Erklärt das Gericht ein Gesetz für nichtig, wirkt das zwar tatsächlich auch in die Vergangenheit - und erzeugt rechtlich einen Zustand, als hätte es diese Rechtsnorm nie gegeben. Die Nichtigkeit eines Gesetzes führt aber nicht dazu, dass alle anderen auf seiner Grundlage erlassenen Entscheidungen ebenfalls ungültig würden. Sie bleiben wirksam, so regelt es das Bundesverfassungsgerichtsgesetz.
(Stand: 25.5.2022)
Links
Bericht in der «Tagesschau» am 25.07.2012 (archiviert)
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeswahlgesetz vom 3. Juli 2008 (archiviert)
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeswahlgesetz vom 25. Juli 2012 (archiviert)
Erläuterung zur Wirkung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht (archiviert)
Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Paragraf 79, Absatz 2 (archiviert)
Koalitionsbeschluss zur Wahlrechtsreform vom 25. August 2020, ab Seite 4 (archiviert)
dpa-Bericht zum Vorschlag der Ampel-Koalition, veröffentlicht auf «focus.de» (archiviert)
dpa-Bericht zum Gegenvorschlag der Union, veröffentlicht auf «handelsblatt.de» (archiviert)
Facebook-Beitrag mit der Behauptung (archiviert, Video archiviert)
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