Jubel statt Hitlergruß

ESC-Gewinner zu Unrecht in Nazi-Ecke gerückt

17.5.2022, 13:49 (CEST), letztes Update: 17.5.2022, 14:12 (CEST)

Kaum haben Kalush Orchestra den Eurovision Song Contest gewonnen, dichten prorussische Aktivisten der ukrainischen Band Nazi-Sympathien an. Doch angebliche Beweise sind an den Haaren herbeigezogen.

Nach ihrem Rekord-Gewinn beim Eurovision Song Contest (ESC) wird der ukrainischen Band Kalush Orchestra von prorussischen Aktivisten eine Nähe zum Faschismus unterstellt. In der Nacht auf den 15. Mai soll Rapper Oleh Psjuk auf der ESC-Bühne im italienischen Turin angeblich den rechtsradikalen Hitlergruß gezeigt haben (archiviert). Doch die mit dem Vorwurf verbreiteten Video-Sequenzen sind kräftig geschnitten.

Bewertung

Für den vermeintlichen Nazi-Gruß gibt es keinerlei Hinweise. Der Sänger jubelte in Richtung Publikum.

Fakten

Mit häufig völlig unbelegten Nazi-Vorwürfen versuchen Medien und Politik in Russland immer wieder, die Ukraine und den Westen insgesamt als Rechtsradikale und Nationalsozialisten zu brandmarken und so Moskaus Angriffskrieg auf das Nachbarland zu rechtfertigen.

Aktuell etwa im Fokus: Die Band Kalush Orchestra, die mit ihrem Song «Stefania» das Publikum in Europa faszinierte und mit einem Sensationsergebnis den Grand Prix in Turin gewann. Nach ihrer Performance im Wettbewerb forderte Psjuk besonders mit Blick auf die Verteidiger des Stahlwerks Azovstal in Mariupol: «Helft bitte der Ukraine, Mariupol, helft Azovstal jetzt!»

Der unbelegte Vorwurf, den Hitlergruß gezeigt zu haben, bezieht sich vor allem auf eine Szene nach der Übergabe der Trophäe an Kalush Orchestra kurz vor Ende der ESC-Übertragung. Während die Band die Bühne verlässt, ist Psjuk mit ausgestrecktem rechten Arm und erkennbar gespreizter Hand zu sehen. Er feiert mit der Geste offensichtlich den Sieg (hier im Video ab 4:04:17 Stunden).

Kurze Clips davon werden mit dem Nazi-Vorwurf im Netz verbreitet - allerdings sind die Ausschnitte häufig manipuliert:

  • Beim den einen setzt die Szene erst so spät ein, dass Psjuks Hand nur von der Seite gezeigt wird. Weggeschnitten sind dabei die wenigen Sekunden zuvor, in denen die gespreizte Hand zu erkennen ist.
  • Bei anderen wird zwar eine längere Sequenz veröffentlicht. Doch dafür ist der Bildausschnitt so sehr verkleinert, dass die gespreizte Hand von der Kamera nicht erfasst wird.

Auch der polnischen ESC-Moderatorin Ida Nowakowska wird rechtsradikales Gedankengut unterstellt. Als sie die zwölf Punkte aus ihrem Land für «Stefania» verkündete, soll auch sie angeblich den Hitlergruß gezeigt haben. Doch in der kurzen Einstellung ist zu sehen, dass sie ihre Finger offenbar zum Peace-Zeichen formt. Danach wird die Hand nicht mehr von der Kamera erfasst.

Prorussische Aktivisten werfen Psjuk zudem vor, mit seinem Aufruf zur Unterstützung der Kämpfer von Azovstal für Faschisten geworben zu haben. Nach ungenauen Schätzungen hielten sich zuletzt in dem weitläufigen Werk rund 1000 ukrainische Soldaten auf. Am Montag wurde bekannt, dass gut 260 von ihnen das Stahlwerk verlassen haben. Ein Großteil der Azovstal-Verteidiger gehört dem Regiment «Asow» an, das Russland als nationalistisch und rechtsextremistisch einstuft.

(Stand: 17.5.2022)

Links

ESC-Finale:

- Kalush-Orchestra-Auftritt ab 1:07:35 Stunden

- Polnische Punktevergabe ab 3:14:06 Stunden

- Ergebnis und Siegerehrung ab 4:01:10 Stunden

- Standbild Ida Nowakowska

Artikel mit Falschbehauptung über vermeintlichen Hitlergruß (archiviert)

Tweet mit Falschbehauptung über vermeintlichen Hitlergruß (archiviert)

Tweet mit zeitlich verkürztem Video (Tweet archiviert, Video archiviert)

Tweet mit manipuliertem Video-Ausschnitt (Tweet archiviert, Video archiviert)

Facebook-Post mit falschem Nazi-Vorwurf gegen polnische Moderatorin (archivierter Post, archiviertes Video)

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