Kramatorsk-Angriff: Lage des Raketenkörpers hat keine Beweiskraft für Schussrichtung

14.04.2022, 17:56 (CEST)

Russland schiebt die Verantwortung für den verheerenden Angriff am 8. April 2022 im ostukrainischen Kramatorsk auf Kiew. Moskau und prorussische Aktivisten brandmarken die Attacke auf einen Bahnhof mit mindestens 50 Toten als einen angeblichen Angriff unter falscher Flagge. Der vermeintliche Beweis (archiviert): Aus der Lage des Antriebs könne geschlossen werden, dass die Totschka-U-Rakete von ukrainisch kontrolliertem Gebiet aus abgefeuert wurde.

Bewertung

Falsch. Das ist nicht zweifelsfrei daraus abzulesen, wie Experten der Deutschen Presse-Agentur (dpa) bestätigen.

Fakten

Bei der Attacke auf den Bahnhof von Kramatorsk wurde eine Totschka-U-Rakete der Version 9M79-1 eingesetzt. Das wurde unter anderem durch Bilder von einem italienischen Fernsehsender deutlich.

Die Verbreiter der Behauptung argumentieren mit der Ballistik. Fernsehbilder der Nachrichtenagentur AP, von Euronews und vielen weiteren Medien zeigen, dass der Raketenantrieb weniger als 100 Meter südwestlich des Bahnhofs in Kramatorsk liegt. Manche schließen daraus, dass die Rakete daher auch aus dieser Richtung hätte abgefeuert worden sein müssen. Jene Gebiete stünden allein unter der Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte.

Eine ballistische Rakete wie die Totschka-U beschleunigt nur in der Anfangsphase und fliegt dann antriebslos auf das Ziel zu. Dabei stürzt sie als Ganzes aus größerer Höhe auf das einprogrammierte Ziel. In etwas mehr als 2000 Metern Höhe über dem Boden wird bei der Totschka-U der Zünder im Gefechtskopf aktiviert, wie der Münchner Raketentechnik-Experte Markus Schiller der dpa erklärt. Dabei birst die Raketenspitze, und rund 50 Einzelladungen sowie der leergebrannte Rest der Rakete stürzen zu Boden.

Während die aerodynamische Rakete bis dahin stabil geflogen ist, verliert nach der Detonation am Gefechtskopf der verbleibende Raketenkörper diese Eigenschaft. «Er segelt ungefähr wie ein Laubblatt zwei Kilometer nach unten», erklärt Schiller. Zwar werde durch Trägheit wohl noch ungefähr die Flugrichtung eingehalten, doch könne das Heck in alle Richtungen wegdriften. «Ich wäre also sehr vorsichtig damit, aus der Position des aufgeschlagenen Raketenkörpers tief gehende Rückschlüsse über die Flugrichtung zu ziehen.»

Das unterstreicht auch Oberstleutnant Frederik Coghe von der Königlichen Militärakademie in Brüssel im dpa-Gespräch. Der Raketenkörper folge nach der Detonation in der Luft wohl seiner ursprünglichen Flugbahn. «Wie weit er genau fliegt, hängt von der Höhe der Detonation und der Art der Munition ab, mit der die Rakete bestückt ist», sagt der Experte aus Belgien. Man könne zwar zwischen dem Aufprallpunkt des Körpers und dem Gefechtsziel eine Linie ziehen, die die Richtung angebe. «Aber das ist keine exakte Wissenschaft.»

Das Triebwerk falle nicht zwangsläufig kurz vor dem Einschlagsort herunter, twittert der Analyst Nathan Ruser vom International Cyber Policy Centre der sicherheitspolitischen Denkfabrik ASPI aus Australien.

Die Totschka-U wurde in den 1980er Jahren eingeführt und hat eine Reichweite von bis zu 120 Kilometern, wie unter anderem das Center for Strategic and International Studies (CSIS) angibt. Selbst wenn es so wäre, dass die Rakete südlich bis südwestlich von Kramatorsk abgeschossen worden ist: Innerhalb ihrer Reichweite gibt es genauso russisch besetzte Gebiete. Die Stadt Donezk befindet sich etwa im Süden 80 Kilometer Luftlinie entfernt. Und auch in Gegenden westlich von Donezk standen am 8. April russische Truppen, wie etwa Karten der Deutschen Presse-Agentur (dpa), des britischen Verteidigungsministeriums, des Web-Projekts «Liveuamap» und des Institute for the Study of War zeigen.

Das heißt: Allein aus der Lage der Raketenüberreste am Boden kann nicht mit Sicherheit darauf geschlossen werden, dass sie zwangsläufig von ukrainischen Streitkräften abgefeuert worden sein muss.

(Stand: 14.04.2022)

Links

AP mit Videomaterial aus Kramatorsk (archiviert)

Euronews mit Videomaterial aus Kramatorsk (archiviert)

Italienische Nachrichtensendung TG LA7 mit Kramatorsk-Bildern (archiviert)

Frederik Coghe auf Researchgate (archiviert)

Institute for the Study of War über Kramatorsk/Lage in der Ukraine am 8.4.2022 (archiviert)

Lage des Totschka-U-Überrestes im Vergleich zum Bahnhof in Kramatorsk (archiviert)

Center for Strategic and International Studies (CSIS) über Totschka-U (archiviert)

Luftlinie von Kramatorsk nach Donezk (archiviert)

GlobalSecurity.org zu Totschka (archiviert)

Britisches Verteidigungsministerium: Karte der besetzten Gebiete in der Ukraine am 8.4.2022 (archiviert)

dpa-Landkarte der besetzten Gebiete in der Ukraine am 7.4.2022 (archiviert)

Web-Projekt «liveuamap.com» mit Karte der besetzten Gebiete in der Ukraine am 8.4.2022 (archiviert)

Facebook-Post mit Falschbehauptung (archiviert)

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