Kramatorsk-Angriff: Moskau macht Kiew mit falschen Beweisen verantwortlich

19.04.2022, 11:36 (CEST)

Russland will mit Blick auf den verheerenden Angriff am 8. April 2022 im ostukrainischen Kramatorsk jede Verantwortung von sich weisen. Moskau und prorussische Aktivisten versuchen, die Attacke auf einen Bahnhof mit mindestens 50 Toten als eine von Kiew gesteuerte Aktion zu brandmarken. Mit Verweis auf den russischen Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Alexander Lukaschewitsch, wird behauptet (archiviert), unter anderem anhand des Raketentyps, der Seriennummer und der Lage des Raketenkörpers sei die ukrainische Urheberschaft bewiesen.

Behauptung

Die Raketen vom Typ Totschka-U, deren Wrackteile in der Nähe des Bahnhofs von Kramatorsk gefunden wurden, seien nur von den ukrainischen Streitkräften eingesetzt worden, schreibt etwa die russische Botschaft in Deutschland. Auch das russische Verteidigungsministerium äußert sich so.

Bewertung

Falsch. Sowohl Russland als auch die Ukraine verwenden Totschka-U-Raketen.

Fakten

Kiew und Moskau schieben sich derzeit gegenseitig die Verantwortung für den tödlichen Raketenangriff auf den Bahnhof in Kramatorsk zu. Zunächst hatten nach Angaben der US-Denkfabrik Institute for the Study of War mehrere kreml-freundliche Kanäle auf Telegram sowie das Verteidigungsministerium den Angriff auf den Bahnhof für Russland reklamiert. Erst kurz darauf löschten oder bearbeiteten sie demnach ihre Stellungnahmen und schwenkten auf ihre aktuelle Position um.

Sicher ist: Bei der Attacke wurde eine Totschka-U-Rakete der Version 9M79-1 eingesetzt. Das wurde unter anderem durch Bilder aus italienischen Medien deutlich. Mehrere Staaten der ehemaligen Sowjetunion, darunter die Ukraine und Belarus, verfügen über diesen Raketentyp, wie unter anderem das Internationale Institut für strategische Studien (IISS) in seinem Jahresbericht über das weltweite Militärpotenzial («Military Balance») berichtet.

Die russische Armee ersetzte nach IISS-Angaben zwar ihr Arsenal offiziell durch die neuere Iskander. Jedoch gibt es im Ukraine-Krieg mehrere Nachweise, dass Moskau noch immer die Totschka-U einsetzt. Bereits am ersten Kriegstag kommt es nach Angaben der Hilfsorganisation Amnesty International zu einem russischen Totschka-U-Angriff auf ein Krankenhaus in Vuhledar. Darüber hinaus ist dem Institute for the Study of War zufolge eine im Donbass eingesetzte russische Einheit mit der Rakete ausgerüstet.

Behauptung

Anhand der Seriennummer auf der Totschka-U-Rakete lasse sich das Geschoss auf die ukrainische Armee zurückführen, heißt es etwa vom russischen OSZE-Botschafter Lukaschewitsch.

Bewertung

Falsch.

Fakten

Seriennummern wurden bei der Produktion zu Sowjet-Zeiten vergeben. Die Geschosse sind mittlerweile alt und in mehreren Staaten des ehemaligen Ostblocks sowie etwa in Syrien gelagert. Für die Behauptung, dass bei der Verteilung die Reihenfolge der Seriennummern eingehalten worden sei - wie prorussische Aktivisten behaupten -, gibt es keine überzeugenden Belege.

«Nach dem Zusammenbruch der UdSSR gibt es ein "schwarzes Loch" von einigen Jahren, in denen keine Informationen darüber vorliegen, welche Raketen in welchen Ländern verblieben, oder welche Systeme nach Russland zurückgekehrt sind», erklärt Oberstleutnant Frederik Coghe von der Königlichen Militärakademie in Brüssel der Deutschen Presse-Agentur (dpa). «Seriennummern bedeuten nichts ohne die Listen, welche Seriennummern sich in welchen Ländern befinden.»

Selbst direkt aufeinander folgende Zahlen müssten nicht zwangsläufig zu denselben Ländern gehören, sagt Coghe. Es könnte die 13 im ukrainischen, die 14 im belarussischen und die 15 im russischen Arsenal vorhanden sein. Es sei Zufall, welches Land welche Seriennummern erhalten habe, so Coghe.

Behauptung

Die Raketenreste am Boden ließen den eindeutigen Schluss zu, dass die Totschka-U von ukrainisch kontrolliertem Gebiet abgefeuert worden sei, behauptet Lukaschewitsch.

Bewertung

Das ist nicht zweifelsfrei daraus abzulesen.

Fakten

Die Befürworter dieser Behauptung argumentieren mit der Ballistik. Fernsehbilder der Nachrichtenagentur AP, von Euronews und vielen weiteren Medien zeigen, dass der Raketenantrieb weniger als 100 Meter südwestlich des Bahnhofs in Kramatorsk liegt. Manche schließen daraus, dass die Rakete daher auch aus dieser Richtung hätte abgefeuert worden sein müssen. Jene Gebiete stünden allein unter der Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte.

Eine ballistische Rakete wie die Totschka-U beschleunigt nur in der Anfangsphase und fliegt dann antriebslos auf das Ziel zu. Dabei stürzt sie als Ganzes aus größerer Höhe auf das einprogrammierte Ziel. Bei etwas mehr als 2000 Metern Höhe über dem Boden wird bei der Totschka-U der Zünder im Gefechtskopf aktiviert, wie der Münchner Raketentechnik-Experte Markus Schiller der dpa erklärt. Dabei birst die Raketenspitze und rund 50 Einzelladungen - auch Kassetten genannt - sowie der leergebrannte Rest der Rakete stürzen zu Boden.

Während die aerodynamische Rakete bis dahin stabil geflogen ist, verliert nach der Detonation am Gefechtskopf der verbleibende Raketenkörper diese Eigenschaft. «Er segelt ungefähr wie ein Laubblatt zwei Kilometer nach unten», erklärt Schiller. Zwar werde durch Trägheit wohl noch ungefähr die Flugrichtung eingehalten, doch könne das Heck in alle Richtungen wegdriften. «Ich wäre also sehr vorsichtig damit, aus der Position des aufgeschlagenen Raketenkörpers tief gehende Rückschlüsse über die Flugrichtung zu ziehen.»

Das unterstreicht auch Oberstleutnant Coghe. Zwar folge der Raketenkörper nach der Detonation in der Luft wohl seiner ursprünglichen Flugbahn. «Wie weit er genau fliegt, hängt von der Höhe der Detonation und der Art der Munition ab, mit der die Rakete bestückt ist», sagt der Experte aus Belgien. Man könne zwar zwischen dem Aufprallpunkt des Körpers und dem Gefechtsziel eine Linie ziehen, die die Richtung angebe. «Aber das ist keine exakte Wissenschaft.»

Das Triebwerk falle nicht zwangsläufig kurz vor dem Einschlagsort herunter, twittert der Wissenschaftler Nathan Ruser vom International Cyber Policy Centre der sicherheitspolitischen Denkfabrik ASPI aus Australien.

Die Totschka-U der Version 9M79-1 wurde in den 1980er Jahren eingeführt und hat eine Reichweite von bis zu 120 Kilometern, wie unter anderem das Center for Strategic and International Studies (CSIS) angibt. Eine geschulte Besatzung könne den Flugkörper innerhalb von 15 bis 20 Minuten von einer mobilen Position aus startbereit machen, schreibt der Waffenexperte Nic R. Jenzen-Jones.

Selbst wenn die Rakete südlich bis südwestlich von Kramatorsk abgeschossen worden wäre: Innerhalb ihrer Reichweite gibt es genauso russisch besetzte Gebiete. Die Stadt Donezk befindet sich etwa im Süden 80 Kilometer Luftlinie entfernt. Und auch Gegenden westlich von Donezk standen am 8. April unter dem Einfluss des Kreml, wie etwa Karten der Deutschen Presse-Agentur (dpa), des britischen Senders BBC, des britischen Verteidigungsministeriums, des Web-Projekts «Liveuamap» und des Institute for the Study of War zeigen.

Das heißt: Allein aus der Lage der Raketenüberreste am Boden kann nicht mit absoluter Sicherheit darauf geschlossen werden, dass sie zwangsläufig von ukrainischen Streitkräften abgefeuert worden ist.

(Stand: 14.04.2022)

Links

Russische Botschaft in Deutschland über Totschka-U (archiviert)

Lukaschewitsch über Kramatorsk-Angriff (archiviert)

AP mit Videomaterial aus Kramatorsk (archiviert)

Euronews mit Videomaterial aus Kramatorsk (archiviert)

Russischsprachiger Bericht über gelöschte Kramatorsk-Berichterstattung in Russland (archiviert)

Italienischer Sender TG La7 mit Kramatorsk-Bildern (archiviert)

IISS über Totschka-U im russischen Arsenal (archiviert)

Nachweise für russische Totschka-U-Raketen in der Ukraine (archiviert)

Amnesty International über Angriff in Wuhledar (archiviert)

Frederik Coghe auf Researchgate (archiviert)

Institute for the Study of War über Kramatorsk/Lage in der Ukraine am 8.4.2022 (archiviert)

Lage des Tutschka-U-Körpers im Vergleich zum Bahnhof in Kramatorsk (archiviert)

Russischsprachige Militärseite über Totschka-U (archiviert)

Center for Strategic and International Studies (CSIS) über Totschka-U (archiviert)

Jenzen-Jones-Artikel über Totschka-U (archiviert)

Luftlinie von Kramatorsk nach Donezk (archiviert)

Britisches Verteidigungsministerium: Karte der besetzten Gebiete in der Ukraine am 8.4.2022 (archiviert)

BBC-Artikel mit Landkarte der besetzten Gebiete in der Ukraine am 7.4.2022 (archiviert)

dpa-Landkarte der besetzten Gebiete in der Ukraine am 7.4.2022 (archiviert)

Web-Projekt «liveuamap.com» mit Karte der besetzten Gebiete in der Ukraine am 8.4.2022 (archiviert)

Facebook-Post mit Falschbehauptung (archiviert)

Kontakt zum dpa-Faktencheckteam: faktencheck@dpa.com