Keine Belege für veränderte Fluchtrouten - Geflüchtete aus der Ukraine teils internationale Studierende

8.4.2022, 17:53 (CEST)

Zwei Millionen Menschen sind bereits aus der Ukraine vor dem Krieg geflohen, berichtet das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Bisher ist die Hilfsbereitschaft in den EU-Ländern groß. In sozialen Medien wird allerdings spekuliert, dass nicht nur Menschen ankommen, die aus dem von Russland angegriffenen Land kommen: «Oh Wunder ! Die neue Flüchtlingsroute für afrikanische/ arabische Flüchtlinge ist jetzt über die Ukraine !!», heißt es in einem Beitrag auf Facebook (archiviert). Als Quelle wird auf die ZDF-Nachrichtensendung «heute» um 19 Uhr verwiesen. Stimmt das?

Bewertung

Es gibt keine Belege dafür, dass Geflüchtete aus afrikanischen oder arabischen Ländern ihre Routen Richtung Europa so verändern, dass diese gezielt durch die Ukraine führen. Belegt ist stattdessen, dass Staatsangehörige afrikanischer Länder oder aus Indien aus der Ukraine vor dem Krieg geflohen sind.

Fakten

Der Facebook-Beitrag wurde am 28. Februar veröffentlicht. An diesem Tag berichteten die «heute»-Nachrichten des ZDF um 19 Uhr tatsächlich über Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind. Der Bericht handelt von der Lage im Grenzgebiet zwischen Polen und der Ukraine. Ab Minute 8:31 werden mehrere dunkelhäutige Geflüchtete am polnischen Bahnhof Przemysl gezeigt und interviewt. Eine Sprecherin sagt aus dem Hintergrund: «Auch viele Ausländer sind aus der Ukraine geflohen. Tausende junger Leute studieren dort.»

Hier wird also nicht über Menschen berichtet, die zuvor in die Ukraine geflüchtet waren und nun weiterflüchten. Stattdessen werden Menschen anderer Nationalitäten gezeigt, die etwa während ihres Auslandsstudiums in der Ukraine lebten. Über bisherige und aktuelle Flüchtlingsrouten von Fliehenden aus afrikanischen oder arabischen Ländern wird in dem Beitrag nicht gesprochen.

Die Lage von Staatsangehörigen andere Länder, die nun aus der Ukraine fliehen müssen, war bereits mehrfach Gegenstand von Berichterstattung. Die BBC schreibt unter Berufung auf staatliche ukrainische Daten, dass im Jahr 2020 mehr als 76 000 ausländische Studierende in der Ukraine lebten. Die meisten von ihnen kämen aus Indien, etwa ein Viertel komme aus afrikanischen Ländern wie Nigeria, Marokko oder Ägypten. Das ukrainische Außenministerium erwähnte in einem Tweet zur Evakuierung aus der Stadt Sumy auch die Flucht ausländischer Studierender. Einige Staatsangehörige afrikanischer Länder, die aus der Ukraine nach Polen geflohen sind, berichteten von rassistischer Benachteiligung auf der Flucht.

Die Fluchtrouten nach Europa von Menschen aus afrikanischen oder arabischen Staaten verlaufen in den meisten Fällen über das westliche, das zentrale und das östliche Mittelmeer oder über den westlichen Balkan. Die Ukraine ist von diesen Routen geografisch recht weit entfernt - es ergibt wenig Sinn, dass eine große Zahl von Menschen diese Routenänderung in Kauf nehmen würde oder überhaupt könnte, um freiwillig in einem Kriegsgebiet zu landen.

Auch internationale Organisationen sehen keine veränderten Routen. «Wir haben zum jetzigen Zeitpunkt keine Beweise oder Informationen, die solche Gerüchte bestätigen oder neue Migrationsrouten nach Europa nahelegen. Migrationstrends und -routen entstehen über lange Zeiträume hinweg. Wir möchten vor Spekulationen warnen, die zu Fremdenfeindlichkeit beitragen oder diese schüren könnten», teilte eine Sprecherin der Internationalen Organisation für Migration (IOM) der Deutschen Presse-Agentur (dpa) mit.

Aus Sicht des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR gäbe es auch keinen Anlass für eine Routenänderung: «Falls sich Menschen dazu entschließen sollten, eine Fluchtroute über die Ukraine zu wählen, hätte das in der Regel keinen Einfluss auf ihre Chance auf Anerkennung als Flüchtling in der EU, weil sich der internationale Schutzbedarf nach der Situation im Herkunftsland und dortigen Verfolgungsgefahren richtet», teilte eine UNHCR-Sprecherin der dpa mit. Flucht passiere demnach häufiger spontan und weniger geplant als angenommen. «Drei Viertel aller Flüchtlinge weltweit finden zudem Schutz in den unmittelbaren Nachbarstaaten», so die Sprecherin.

(Stand: 30.3.2022)

Links

ZDF «heute»-Sendung vom 28.02.2022 mit Beitrag zu Ukraine-Flüchtlingen ab Minute 7:02 (archiviert, Video archiviert)

BBC-Bericht über ausländische Studierende in der Ukraine (archiviert)

Tweet des ukrainischen Außenministeriums zur Evakuierung aus Sumy (archiviert)

dpa-Bericht über Rassismus-Vorwürfe bei der Flucht aus der Ukraine, veröffentlicht von «zeit.de» (archiviert)

Karte der EU-Agentur Frontex über Migrationsrouten nach Europa (archiviert)

Facebook-Beitrag mit der Behauptung (archiviert)

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