Aufnahmen belegen keine Inszenierung der Angriffe in Mariupol
6.4.2022, 16:44 (CEST)
Das Foto einer Schwangeren, die einen mutmaßlichen Raketenangriff der russischen Armee auf ein Krankenhaus in der ukrainischen Stadt Mariupol überlebt hat, ist um die Welt gegangen. Doch die Behauptungen, bei den Bildern habe es sich um eine Inszenierung gehandelt, reißen nicht ab. Tage später verbreiten Nutzer in den sozialen Netzwerken, dass es angeblich eine neue Aufnahme der Frau gibt - diesmal bei einer Lebensmittelausgabe (archiviert). «Und nicht nur hat sie überlebt! Sie hat sogar zum Ausgleich für ihre Leiden eine (neue) Rolle im nächsten ukrainischen PR-Fim bekommen», heißt es (Fehler im Original). Was ist da dran?
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Es gibt keine Hinweise darauf, dass es sich bei den gezeigten Bildern um Inszenierungen handelt. Der Angriff auf die Geburtsklinik in Mariupol mit zivilen Opfern hat nachweislich stattgefunden und ist von unabhängigen Medien dokumentiert worden. Die Frau aus der Klinik gibt an, nicht die Frau auf dem Video von der Lebensmittelausgabe zu sein.
Fakten
Über die schwangere Frau, die am 9. März Opfer eines mutmaßlich russischen Raketenangriffs auf ein Krankenhaus in der ukrainischen Stadt Mariupol wurde, kursieren seit Wochen Gerüchte und Falschbehauptungen. So hieß es etwa, dass sie auf Fotos angeblich zwei verschiedene Opfer des Angriffs dargestellt habe - was jedoch falsch ist, wie ein älterer Faktencheck der Deutschen Presse-Agentur (dpa) zeigt. Auch der Umstand, dass sie als Influencerin in den sozialen Netzwerken aktiv war, belegt keine Inszenierung. Der Angriff auf das Krankenhaus in Mariupol ist unter anderem von Journalisten der Nachrichtenagentur AP dokumentiert worden.
Von ihnen stammen auch die Aufnahmen der verletzten schwangeren Frauen. Eine von ihnen und ihr ungeborenes Kind sind einige Tage nach dem Angriff verstorben, wie AP unter Berufung auf einen Arzt aus Mariupol berichtet hat.
Die andere Frau, deren Foto nun weiter in den sozialen Netzwerken verbreitet wird, hat überlebt. Sie hat kurz nach dem Angriff eine Tochter zur Welt gebracht, wie ebenfalls AP berichtet hat.
Die Stadt Mariupol ist weiter schwer umkämpft und die Versorgungslage gilt als angespannt. In den sozialen Netzwerken kursiert seit Mitte März ein Video, das Menschen bei einer Lebensmittelausgabe zeigt. Eine Behauptung lautet: Eine der dort zu sehenden Frauen sei dieselbe, die in und vor dem zerstörten Krankenhaus fotografiert wurde. Das sei ein Beleg dafür, dass die Opfer des Angriffs auf das Krankenhaus inszeniert gewesen seien.
Das Video von der Lebensmittelausgabe wurde zuerst mutmaßlich am 21. März zusammen mit weiteren Aufnahmen vom selben Ort in einem Telegram-Kanal verbreitet. Wie die Nachrichtenagentur Reuters ermittelt hat, ist es im Nordwesten von Mariupol aufgenommen worden. Im Video sind russische Sprachfetzen zu hören. Allerdings spricht ein großer Teil der Bevölkerung in Mariupol und im Osten der Ukraine selbst Russisch. Weitere Aufnahmen vom Ort der Lebensmittelausgabe legen nahe, dass es sich um eine Aktion von ukrainischer Seite gehandelt hat. Darauf deuten unter anderem die Uniformen hin, die in den Videos zu sehen sind.
Es gibt außer einer gewissen Ähnlichkeit jedoch keinerlei Belege für die Behauptung, dass es sich um dieselbe Person handelt. Die Frau, die den Angriff auf das Krankenhaus überlebt hat, hat sich mutmaßlich Anfang April in einem Interview zu den Geschehnissen in Mariupol geäußert. Darin geht sie auch auf das Video von der Lebensmittelausgabe ein: Sie sei nicht die Person, die dort zu sehen ist. Das klingt plausibel, denn auch technisch gestützte Gesichtsvergleiche führten bei Versuchen der dpa nicht zu eindeutigen Ergebnissen.
Aber selbst wenn es sich um dieselbe Person handeln würde: Einen Beleg für eine angebliche Inszenierung der Geschehnisse in Mariupol stellen die Bilder nicht dar. Zwischen der Geburt und der mutmaßlich erstmaligen Verbreitung des Videos von der Lebensmittelausgabe liegen mindestens zehn Tage.
Die Frau hat Mariupol laut ihren Schilderungen im Interview inzwischen verlassen. Unklar ist allerdings, wo sie sich nun befindet und unter welchen Umständen sie sich geäußert hat. Auf dem Youtube-Kanal, auf dem das Interview erschienen ist, werden unter anderem Berichte russischer Medien über das Kriegsgeschehen verbreitet.
Die Frau lebte eigenen Aussagen zufolge in Mariupol. Das belegen auch Postings (hier und hier) in ihren Instagram-Kanälen. Das jüngste entstand knapp zwei Wochen vor dem Angriff auf das Krankenhaus.
Über das am 9. März angegriffene Krankenhaus in Mariupol hat es zuletzt weitere Falschbehauptungen gegeben, die auch von russischen Offiziellen verbreitet wurden. So sei das Krankenhaus geräumt und lediglich von ukrainischen Truppen besetzt worden. Angebliche Beweisfotos von Bewaffneten und Militärfahrzeugen sind jedoch an gänzlich anderen Orten entstanden, wie ein weiterer dpa-Faktencheck zeigt.
(Stand: 30.3.2022)
Links
dpa-Bericht über Angriff auf Krankenhaus in Mariupol (10.3.2022) (archiviert)
dpa-Faktencheck zu Falschbehauptungen über Opfer des Angriffs (11.3.2022)
Instagram-Account der Überlebenden (archiviert)
Weiterer Instagram-Account der Frau (archiviert)
AP-Fotos bei Al Jazeera nach dem Angriff (10.3.2022) (archiviert)
AP-Foto der überlebenden Frau bei der «B.Z.» (15.3.2022) (archiviert)
AP-Bericht über verstorbene Schwangere (15.3.2022) (archiviert)
AP-Bericht über Geburt kurz nach dem Angriff (11.3.2022) (archiviert)
dpa-Bericht über Lage in Mariupol (29.3.2022) (archiviert)
Mutmaßlich erste Verbeitung des Videos bei Telegram (21.3.2022) (archiviert)
Weitere Aufnahmen bei Telegram von Lebensmittelausgabe (21.3.2022) (archiviert)
Reuters-Faktencheck zu Video von Lebensmittelausgabe (25.3.2022) (archiviert)
Aufnahmeort der Videos (archiviert)
Weiteres Video von diesem Ort (21.3.2022) (archiviert)
Interview mit der Überlebenden (5.4.2022) (archiviert)
Online-Gesichtserkennung von Microsoft (archiviert)
Posting der überlebenden Frau aus Mariupol bei Instagram (4.6.2020) (archiviert)
Weiteres Posting (22.11.2021) (archiviert)
Weiteres Posting (28.2.2022) (archiviert)
dpa-Faktencheck über angeblich geräumtes Krankenhaus (15.3.2022)
Kontakt zum dpa-Faktencheckteam: faktencheck@dpa.com