Fotos und Drohnen-Videos entstanden mehrere Kilometer von der Geburtsklinik in Mariupol entfernt
15.3.2022, 15:04 (CET)
Nach dem mutmaßlich russischen Beschuss einer Geburtsklinik im ukrainischen Mariupol mit Toten und Verletzten kursieren in den sozialen Netzwerken Beiträge, in denen das Vorgehen Russlands verteidigt wird. So heißt es, die Klinik sei nicht in Betrieb gewesen, sondern von ukrainischen Soldaten und Kämpfern des rechtsextremen Asow-Bataillons genutzt worden. Letztere hätten «ihre Schusspositionen in und auf dem Gebäude bezogen». Als Belege werden verschiedene Fotos und Videos gezeigt. Dort sind Bewaffnete sowie Militärfahrzeuge zu sehen. Auf einem Foto erkenne man, «wie die ukrainischen Truppen unmittelbar am anliegenden Kindergarten-Gebäude ihre Schützenpanzer positioniert haben». Was ist dran an dieser Darstellung der Geschehnisse?
Bewertung
Die Fotos und Videos sind an Orten aufgenommen worden, die mehrere Kilometer von der Geburtsklinik entfernt liegen. Sie sind somit kein Beleg für die Behauptung, dass ukrainische Soldaten und Rechtsextreme sich in der Geburtsklinik verschanzt haben sollen. Es gibt keinerlei Belege dafür, dass die Klinik zum Zeitpunkt des Angriffs nicht auch als solche genutzt wurde. Dass es bei dem Angriff zivile Opfer gegeben hat, ist durch unabhängige Medien dokumentiert worden.
Fakten
Nur eines der in einem Facebook-Beitrag (hier archiviert) verbreiteten Bilder zeigt nachweislich die Geburtsklinik in Mariupol, allerdings bereits nach dem Angriff am 9. März - und somit zerstört. Die Klinik wurde mutmaßlich mit Raketen beschossen oder aus der Luft bombardiert. Sie liegt im Zentrum der Stadt an einer der Hauptverkehrsstraßen.
Die weiteren auf Facebook gezeigten Aufnahmen - sowohl Fotos als auch die mutmaßlich mit Drohnen aufgenommenen Videos - sind jedoch an ganz anderen Orten in Mariupol entstanden, wie Vergleiche mit Luftbildern und Online-Kartendiensten zeigen:
- Das Foto, das unter anderem einen Panzer vor einem zweistöckigen Gebäude zeigt, ist am östlichen Stadtrand von Mariupol aufgenommen worden - rund zehn Kilometer Luftlinie von der Geburtsklinik entfernt. Das Recherchenetzwerk «Bellingcat» hatte diesen Standort als erstes ermittelt.
- Eines der aneinander geschnittenen Drohnenvideos und auch das Standbild eines Bewaffneten auf einem Dach zeigen ein unmittelbar angrenzendes mehrstöckiges Gebäude, das damit ebenfalls rund zehn Kilometer entfernt von der Klinik am Stadtrand liegt.
- Das zweite Drohnenvideo, das mehrere mutmaßliche Militärfahrzeuge in einer Wohnsiedlung zeigt, ist ein Stück weiter nördlich aufgenommen worden - aber ebenfalls am östlichen Stadtrand und rund zwölf Kilometer von der Geburtsklinik entfernt.
Keines der Bilder stellt einen Beleg für die Behauptung dar, dass die Geburtsklinik geräumt und als Rückzugsort von ukrainischen Soldaten und Milizen genutzt sein worden könnte.
Das Foto des Schützenpanzers war zunächst unter anderem vom Twitter-Account der russischen Botschaft in Israel verbreitet, später aber wieder gelöscht worden. Es kursiert online jedoch bereits mindestens seit dem 28. Februar.
Die Drohnen-Videos gehen mutmaßlich auf einen Tweet eines russischen Aktivisten zurück, der sich offenbar in der Ostukraine im Umfeld des russischen Militärs bewegt. Laut seiner Darstellung zeigen die Videos rechtsextreme ukrainische Kämpfer des Asow-Bataillons. Einen Bezug zu der Geburtsklinik stellte der Aktivist jedoch nicht her. Asow ist ein nationalistisches und rechtsextremes ukrainisches Freiwilligen-Bataillon, das auch schon vor der russischen Invasion an den Kämpfen gegen Separatisten im Osten der Ukraine beteiligt war.
Für den Angriff auf die Geburtsklinik macht die ukrainische Seite Russland verantwortlich. Präsident Wolodymyr Selenskyj berichtete am Donnerstag zunächst von drei getöteten und 17 verletzten Zivilisten. Auch die Vereinten Nationen äußerten sich zu dem Angriff. Ein Sprecher sagte: «Das dortige Menschenrechtsteam hat bestätigt und dokumentiert, was sie als wahllosen Luftangriff auf das Krankenhaus bezeichneten, und dass das Krankenhaus zu dieser Zeit Frauen und Kinder versorgte.» Vertreter Russlands, darunter Außenminister Sergej Lawrow, behaupteten hingegen, das Gebäude sei von Asow-Kämpfern genutzt worden. Berichte über zivile Opfer seien ukrainische «Manipulation». Belege dafür legten sie nicht vor.
Dass es bei dem Angriff zivile Opfer, darunter schwangere Frauen gegeben hat, ist durch Aufnahmen eines Fotografen der Nachrichtenagentur AP dokumentiert worden. Zu dessen Fotos verbreiteten sich jedoch rasch auch von Russland gestreute Falschbehauptungen in den sozialen Netzwerken - angeblich seien die Bilder inszeniert gewesen, bei einer schwangeren Frau handele es sich demnach um eine Schauspielerin. Das ist falsch, wie ein Faktencheck der Deutschen Presse-Agentur (dpa) zeigt.
Die Zahl der Toten nach dem Angriff ist inzwischen weiter gestiegen. Laut Angaben vom Montag - sowohl von AP als auch vom ukrainischen Außenministerium - sind eine der verletzten schwangeren Frauen und ihr Ungeborenes gestorben (Stand: 14. März 2022). In der gesamten Stadt Mariupol, die von russischen Truppen eingekreist ist, sollen der ukrainischen Seite zufolge bereits 2187 Zivilisten unter anderem durch Luftangriffe getötet worden sein (Stand: 13. März 2022). Zudem gilt die Versorgung der Bewohner mit Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten als gefährdet.
(Stand: 14.3.2022)
Links
Von ukrainischer Seite verbreitete Fotos der zerstörten Geburtsklinik (9.3.2022) (archiviert)
Standort der Klinik in Mariupol (archiviert)
Aufnahmeort des Fotos eines Panzers (archiviert)
Tweet mit Geolokalisierung von «Bellingcat» (archiviert)
Aufnahmeort des ersten Drohnen-Videos und Standbilds (archiviert)
Aufnahmeort des zweiten Drohnen-Videos (archiviert)
Archivierter Tweet der russischen Botschaft in Israel (9.3.2022)
Früherer Tweet mit Foto des Panzers (28.2.2022) (archiviert)
Tweet eines russischen Aktivisten mit Drohnen-Video (9.3.2022) (archiviert, archiviertes Video)
Informationen zum Asow-Bataillon (19.2.2022) (archiviert)
Mitteilung des ukrainischen Präsidialamts (10.3.2022) (archiviert)
dpa-Meldung mit Äußerungen eines UN-Sprechers (10.3.2022) (archiviert)
dpa-Bericht über Reaktionen auf den Angriff (10.3.2022) (archiviert)
AP-Fotos bei Al Jazeera von Opfern des Angriffs (9.3.2022) (archiviert)
«Guardian»-Bericht über russischen Vorwurf der Inszenierung (10.3.2022) (archiviert)
dpa-Faktencheck zu angeblich inszenierten Aufnahmen (11.3.2022)
AP-Bericht über verstorbene Schwangere (14.3.2022) (archiviert)
Tweet des ukrainischen Außenministeriums (14.3.2022) (archiviert)
Angaben des Stadtrats von Mariupol über Opferzahlen (13.3.2022) (archiviert)
Beitrag auf Facebook (archiviert)
Archiviertes Foto der zerstörten Klinik
Kontakt zum dpa-Faktencheckteam: faktencheck@dpa.com