Onkologen empfehlen Krebspatienten Covid-Impfung - «Turbokrebs» ist keine medizinische Bezeichnung
21.1.2022, 17:06 (CET)
Eine Impfung schützt nachweislich sehr gut vor schweren Verläufen von Covid-19. Doch in sozialen Medien verbreitet sich eine gegenteilige Behauptung über einen scheinbaren Zusammenhang zwischen der Covid-Impfung und Tumorerkrankungen. «Onkologen warnen: Turbokrebs durch mRNA-Impfung», heißt es in einem Facebook-Beitrag (archiviert). Teilweise wird als angeblichen Beweis dafür auf eine Studie verwiesen. Ist an diesen Behauptung etwas dran?
Bewertung
Für die Behauptung gibt es keine Belege. «Turbokrebs» ist keine medizinische Diagnose oder Bezeichnung. Onkologen empfehlen Krebspatienten ausdrücklich eine Impfung, weil Krebspatienten «ein besonders hohes Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 haben».
Fakten
Der Begriff «Turbokrebs» ist ein Laienbegriff, keine bekannte medizinische Bezeichnung. Es finden sich keine Einträge auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO), die diesen Begriff auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur (dpa) auch nicht kommentieren wollte. In der Suchmaschine Google Scholar für wissenschaftliche Artikel ist er ebenfalls nicht zu finden.
Geprägt wurde dieser Begriff von einem Rechtsanwalt auf einer Pressekonferenz namens «Pathologie-Konferenz». Er weist selbst daraufhin, dass dieses Wort nicht medizinisch gebräuchlich ist: «Turbokrebs, so nenne ich es mal, ist eine Erfindung von mir, ist also nicht unter medizinisch korrekter Bezeichnung segelnd, aber sehr einprägsam, denke ich» (ab Minute 3:03). Im Verlauf des Videos behauptet dann eine deutschsprachige Ärztin aus Schweden, sie sähe zuletzt mehr Fälle von jüngeren Krebspatientinnen mit fortgeschrittenen Tumoren.
Unter dem Namen «Pathologie-Konferenz» wurden bereits mehrere Video-Vorträge verbreitet. Darin stellten unter anderem zwei Pathologen im Ruhestand Behauptungen zu einer vermeintlichen Gefahr durch den Covid-Impfstoff auf. Für ihre Behauptungen gibt es keine Belege. Aktiv praktizierende und forschende Experten sowie die Deutsche Fachgesellschaft für Pathologie bezeichneten die «nicht wissenschaftlich fundiert». Was dagegen gut wissenschaftlich dokumentiert ist und weiterhin überwacht wird, ist die Wirksamkeit und Verträglichkeit der Covid-Impfstoffe.
Ein angeblicher Anstieg von Tumorbefunden in Folge der Impfung ist der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) nicht bekannt. «Wenn das ein echtes Problem wäre, hätten wir das bemerkt», sagte die Jenaer Professorin Marie von Lilienfeld-Toal, Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Infektionen in der DGHO, der dpa. «Wir finden keine erhöhte Rate von Rückfällen.»
Möglich sei aber, dass Tumore später entdeckt und behandelt werden, weil die laufende Pandemie zu einem eingeschränkten Gesundheitssystem führt. «Wir gehen davon aus, dass einige Patientinnen und Patienten aufgrund der Pandemie verzögert mit Krebserkrankungen oder Rückfällen in ärztliche Behandlung gekommen sind. Einige dieser Erkrankungen waren dann schon im fortgeschrittenen Stadium», sagte die Onkologin von Lilienfeld-Toal. Von diesem negativen Effekt seien auch Geimpfte betroffen. «Diese Fälle haben aber nichts mit der Impfung zu tun.»
Die wissenschaftliche Fachgesellschaft weist darauf hin, dass Krebspatienten «ein besonders hohes Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 haben». Deswegen werde ihnen vorrangig eine Impfung empfohlen. Auch eine Auffrischimpfung empfiehlt die DGHO. «Es gibt keine krebsspezifischen Kontraindikationen gegen eine Covid-19-Impfung», schreibt die DGHO. Eine Kontraindikation meint einen medizinischen Umstand, der explizit gegen eine bestimmte Behandlung sprechen würde.
Teilweise wird in falschen Behauptungen zu angeblichem «Turbokrebs» auch auf eine Studie verwiesen. Diese soll eine explosionsartige Vermehrung von Krebs-Metastasen des lymphatischen Systems innerhalb von 22 Tagen nach einer Booster-Impfung beweisen.
Die Studie, erschienen im wissenschaftlichen Fachjournal «Frontiers in Medicine», liefert dafür aber keinen Beweis. Sie beschreibt einen Einzelfall. Der Hauptautor der Studie ist gleichzeitig der beschriebene Patient. Bei ihm wurde die seltene Krankheit AITL, eine Form von Lymphdrüsenkrebs, diagnostiziert. Nach seiner Booster-Impfung mit dem Biontech-Impfstoff haben sich bestimmte Aspekte der Krebserkrankung verschlechtert.
Der Autor stellt daraufhin die These auf, dass die Impfung dafür verantwortlich sein könnte und ruft zur Prüfung seiner These zu mehr Forschung auf. «Was auch immer das Ergebnis solcher Studien ist, sollte nicht die grundsätzlich vorteilhafte Nutzen-Risiko-Abwägung der dringend gebrauchten Impfungen beeinflussen», heißt es weder den Nutzen der Corona-Impfung an noch belegen sie deren Gefährlichkeit.
Diese Schlussfolgerung aus der Einzelfallstudie hält auch die Onkologie-Professorin Marie von Lilienfeld-Toal für plausibel. «All das lässt sich aber überhaupt nicht verallgemeinern und nach wie vor gilt, dass kein Zusammenhang zwischen der Impfung und vermehrten unkontrollierten Tumorerkrankungen zu sehen ist», sagte von Lilienfeld-Toal der dpa.
(Stand: 19.01.2022)
Links
Suche nach «Turbokrebs» auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) (archiviert)
Suche nach «Turbokrebs» in wissenschaftlichen Artikel bei Google Scholar (archiviert)
Videokonferenz von Pathologen im Ruhestand mit Abschnitt zu vermeintlichem «Turbokrebs» ab Minute 3:03 (archiviert, Video archiviert)
dpa-Faktencheck: Aussagen zu Corona-Impfstoffen unbelegt
dpa-Faktencheck: Die Corona-Impfung ist wirksam - die Auffrischung erneuert den Schutz
Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie zur «Schutzimpfung gegen COVID-19 bei Krebspatient*innen» (archiviert)
DGHO zu «COVID-19 Empfehlungen zur Auffrischimpfung bei Risikopatient*innen» (archiviert)
Studie im Fachjournal «Frontiers in Medicine» (archiviert)
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