Artikel interpretiert Zahlen zu Übersterblichkeit in Deutschland unangemessen

11.01.2022, 11:29 (CET)

Mehr als 100 000 Menschen sind in Deutschland bis Anfang Januar 2021 in Zusammenhang mit dem Coronavirus gestorben. Gleichzeitig haben inzwischen 62 Millionen Menschen mindestens eine Dosis der Corona-Impfstoffe erhalten. In einem Artikel stellt das Magazin «Compact», das vom Bundesamt für Verfassungsschutz als «gesichert extremistisch» bewertet wird, auf der Grundlage einer statistischen Auswertung eines fünfwöchigen Zeitraums im September/Oktober 2021 einen Zusammenhang zwischen einer hohen Impfquote und einer hohen Übersterblichkeit her.

Bewertung

Das ist irreführend: Es ist wissenschaftlich nicht haltbar, aus dem in einem ausgewählten, relativ kurzen Zeitraum auftretenden statistischen Verhältnis abzuleiten, dass ein Zusammenhang zwischen hoher Impfquote und hoher Übersterblichkeit bestehe. Die Wissenschaftler, auf deren Auswertung sich der Magazin-Artikel unter anderem beruft, stellten klar, dass ihre Einschätzung keineswegs beweise, dass eine erhöhte Impfquote zu einer erhöhten Sterbewahrscheinlichkeit führe.

Fakten

Das Statistische Bundesamt (Destatis) teilte Anfang Dezember 2021 mit, dass die Corona-Pandemie zu einer Übersterblichkeit geführt habe. Der Anstieg der Sterbefallzahlen sei «maßgeblich durch die Pandemie beeinflusst». Von Übersterblichkeit spricht man, wenn in einem bestimmten Zeitraum die absolute Anzahl der Todesfälle signifikant über dem Durchschnitt eines Vergleichszeitraums liegt (hier: über dem mittleren Wert der vier Vorjahre).

Es deutet nichts darauf hin, dass Corona-Impfungen die Sterbefallzahlen beeinflusst haben. Die höchste Übersterblichkeit wurde bislang in Phasen verzeichnet, als noch gar nicht oder nur in geringem Umfang geimpft wurde - zum Jahreswechsel 2020/2021 und im Frühjahr 2021.

Der «Compact»-Artikel vom 30. Dezember 2021 bezieht sich zum einen auf Zahlen des statistischen Bundesamts und zum anderen auf ein Papier von zwei Wissenschaftlern. Darin soll angeblich ein Zusammenhang zwischen Übersterblichkeit und Impfquote nachgewiesen worden sein.

Die thüringische Landtagsabgeordnete Ute Bergner (fraktionslos) verglich Daten des Statistischen Bundesamts und des Robert Koch-Instituts und bemerkte dabei vermeintliche Unstimmigkeiten. Sie beauftragte daraufhin Rolf Steyer, der emeritierter Professor für Methodenlehre und Evaluationsforschung der Universität Jena ist, die Daten zu untersuchen.

Gemeinsam mit einem anderen Wissenschaftler antwortete dieser mit einem Papier, das in den sozialen Medien massiv verbreitet wurde. Es vergleicht unter anderem die Korrelation zwischen der berechneten Übersterblichkeit in den Kalenderwochen 36 bis 40 des Jahres 2021 und der Impfquote der Kalenderwoche 40 für die einzelnen Bundesländer. Die Wissenschaftler kommen dabei auf einen positiven Wert (0,31), obwohl ein negativer zu erwarten wäre. Daraus schließen sie: «Je höher die Impfquote, desto höher die Übersterblichkeit».

Erstens: Die Autoren des Papiers vergleichen zwei unterschiedliche Zeiträume. Für die Impfquote berücksichtigen sie nur die Kalenderwoche 40. Die Daten der Übersterblichkeit ergeben sich jedoch aus den Sterbefallzahlen der fünf Kalenderwochen 36 bis 40. Die Impfquote der Woche 40 kann nicht herangezogen werden, wenn man einen Zusammenhang mit der Übersterblichkeit in den Wochen 36 bis 40 berechnen will.

Zweitens: Die berechnete Korrelation ist im statistischen Sinne nicht signifikant. Denn es ist nicht auszuschließen, dass der berechnete Wert nur auf zufälligen Schwankungen der Daten beruht. Dies zeigen Zahlen anderer Kalenderwochen des Jahres 2021: So gibt es etwa in den Wochen 20 bis 40 zwar ebenfalls eine positive Korrelation (0,14), jedoch ist diese deutlich geringer. Die Kalenderwochen 36 bis 44 ergeben dagegen eine negative Korrelation (-0,37). Die Zahlen schwanken also tatsächlich. Deshalb ist der von den Wissenschaftlern berechnete Wert für einen bestimmten kurzen Zeitraum als statistisch nicht signifikant zu bewerten.

Felix zur Nieden, Experte für Demografie und Sterbefallzahlen beim Statistischen Bundesamt, erklärte dem ARD-«Faktenfinder»: «Dass es keinen systematischen Zusammenhang zwischen Impfquote und Übersterblichkeit gibt, kann man schon aus der Grafik ersehen, die die Forscher erstellt haben.» Und: Selbst wenn ein statistischer Zusammenhang zwischen Impfquote und Übersterblichkeit bestünde, ließe sich daraus nicht automatisch ein ursächlicher Zusammenhang ableiten.

Auch die Verfasser des Papiers haben ihre Einschätzung inzwischen in einer Stellungnahme eingeordnet. Sie stellen klar, dass ihre Einschätzung keineswegs beweise, dass eine erhöhte Impfquote zu einer erhöhten Sterbewahrscheinlichkeit führe. «Es gibt zahlreiche Gründe, welche die gefundene positive Korrelation erklären könnten, ohne einen negativen Effekt der Impfquote auf die Übersterblichkeit zu implizieren», schreiben die Wissenschaftler. Es handle sich «weder um eine wissenschaftliche Publikation noch um eine fundierte wissenschaftliche Studie, die unseren eigenen Qualitätsstandards genügt».

An den Folgen der Impfung zu sterben, ist nahezu ausgeschlossen. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) bewertet in seinem jüngsten Sicherheitsbericht bei 78 Fällen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einer Covid-19-Impfung und dem Tod als «möglich oder wahrscheinlich» - bei bis dahin ingesamt mehr als 123 Millionen durchgeführten Impfungen in Deutschland (Stand der Daten: 30.11.2021).

Daten zur Übersterblichkeit in der Corona-Pandemie sind immer wieder Gegenstand von Behauptungen, die die Pandemie verharmlosen oder die Wirkung der Corona-Impfung anzweifeln. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) hat dazu bereits mehrere Faktenchecks (etwa hier und hier) veröffentlicht.

(Stand: 10.01.2022)

Links

RKI: aktuelle Covid-19-Fallzahlen (archiviert - 10.01.2022)

Impf-Dashboard Bundesgesundheitsministerium (archiviert - 10.01.2022)

Tagesschau-Artikel zur Einstufung von «Compact» als «gesichert extremistisch» (archiviert)

Destatis-Pressemitteilung vom 9.12.2021 (archiviert)

SWR-Artikel zu Übersterblichkeit (archiviert)

Papier von Prof. Dr. Rolf Steyer und Dr. Gregor Kappler zu Übersterblichkeit und Impfquote (archiviert)

Destatis-Sonderauswertung zu Sterbefällen in Deutschland zwischen 2016 und 2021 (archiviert)

Robert Koch-Institut Lagebericht vom 8.10.2021 (archiviert)

Facebook-Post 1 (archiviert)

Facebook-Post 2 (archiviert)

ARD-«Faktenfinder» zum Thema (archiviert)

Stellungnahme von Rolf Steyer und Gregor Kappler (archiviert)

Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts vom 23.12.2021 (archiviert)

dpa-Faktencheck vom 04.01.2022

dpa-Faktencheck vom 10.09.2021

MDR-Artikel vom 26.11.2021 zum Thema (archiviert)

Analyse des Leibniz-Insituts für Wirtschaftsforschung zum Thema (archiviert)

Compact-Artikel vom 30.12.2021 (archiviert)

Kontakt zum dpa-Faktencheckteam: faktencheck@dpa.com