Theaterbesuch war in der Nazizeit ohne «Ahnenpass» möglich

22.12.2021, 11:16 (CET)

Mitten in der Corona-Pandemie beginnen manche Internet-Nutzer, sich mit dem sogenannten Ahnenpass aus der Nazizeit zu befassen. Sie behaupten, das Dokument sei notwendig gewesen, «um Zugang zu Museen, öffentlichen Gebäuden, Theatern, Schulen und Arbeitsplatz zu erhalten». Dazu stellen sie ein Foto, das einen «Gesundheitspass» der Nationalsozialisten zeigt. Einige ziehen dabei Vergleiche mit der Gegenwart oder meinen, die Geschichte wiederhole sich.

Bewertung

Der «Ahnenpass» der Nationalsozialisten war nicht die Voraussetzung für den Besuch von Schulen, Museen oder anderen öffentlichen Einrichtungen. Dieser Nazi-Ausweis hatte wie der «Gesundheitspass» einen anderen Hintergrund und eine andere Funktion.

Fakten

In Facebook-Beiträgen aus Deutschland heißt es, Adolf Hitler habe 1933 den sogenannten «genealogischen Pass» oder «Ahnenpass» eingeführt. Dieser Pass sei notwendig gewesen, um Zugang zu Museen, öffentlichen Gebäuden, Theatern, Schulen und Arbeitsplatz zu erhalten. «... und wie war das jetzt mit früher kann man nicht mit heut'vergleichen», schreibt ein Nutzer dazu in fehlerhaftem Deutsch.

Dieser Post ist mit dem Bild eines «Gesundheitspasses» der Hitlerjugend (HJ) illustriert. Tatsächlich hat allerdings der «Gesundheitspass» nichts mit dem «genealogischen Pass» zu tun, der auch als «Ahnenpass» bekannt ist. Der «Gesundheitspass» war ein Dokument, dessen Entstehung und Funktion der Historiker Michael Buddrus in seinem Buch «Totale Erziehung für den totalen Krieg» ausführlich darstellt.

Der «Gesundheitspass» war Teil des Bemühens der Nazis, sich Daten über die Leistungsfähigkeit der Jugendlichen in der HJ und dem Bund Deutscher Mädel zu verschaffen. Der «Gesundheitspass» war auch bei Kriegsbeginn noch nicht flächendeckend bei der HJ eingeführt. Die im Blick auf die Kriegsanstrengung geplante Einführung des «Gesundheitspasses» bei den Werktätigen der Deutschen Arbeitsfront (DAF) gelang ebenfalls nur teilweise. Der «Gesundheitspass» musste lediglich einem Arzt vorgezeigt werden. Er hatte also keine Bedeutung für die Teilnahme am öffentlichen Leben.

In dem Facebook-Post scheint aber ohnehin nicht der abgebildete «Gesundheitspass» gemeint zu sein, sondern der im Text erwähnte «Ahnenpass». Gleich nach der Machtübernahme hatten die Nazis mit dem «Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums» vom 7. April 1933 einen «Arierparagrafen» geschaffen. Mit ihm sollten Juden aus dem Berufsleben entfernt werden. Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst mussten die arische Abstammung nachweisen können, um weiterhin arbeiten zu dürfen. Später wurden weitere Berufe erfasst, unter anderem Ärzte und Rechtsanwälte.

Der «Ahnenpass» war laut Deutschem Historischen Museum eine wichtige Voraussetzung für den «Ariernachweis», den alle Deutschen nach den «Nürnberger Gesetzen» vom September 1935 erbringen mussten. Der Beweis für eine «arische», also nichtjüdische Abstammung, musste durch Vorlage von Dokumenten, beispielsweise Geburtsurkunden bis hin zu den Großeltern, geführt werden. Der Pass wurde beispielsweise benötigt, um Mitglied von NS-Organisationen zu werden, um heiraten oder um einen Orden oder das «Mutterkreuz» empfangen zu können. Im Alltagsleben war er nur von begrenzter Bedeutung.

Die Historikerin Chantal Kesteloot bestätigt das. Die Spezialistin für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Shoah im belgischen Forschungszentrum CegeSoma sagte der Deutschen Presse-Agentur (dpa) über den «Ahnenpass»: «Dieses Zertifikat diente zur Einstellung im Öffentlichen Dienst, bei der NSDAP und der SS, aber war keinesfalls erforderlich für den Zutritt zu Museen, Theatern und anderen öffentlichen Gebäuden. Das ist eine Verkehrung der Tatsachen.» Den Schulbesuch jüdischer Kinder beschränkte das NS-Regime in den 1930er Jahren auf andere Weise. 

Der «Ahnenpass» ist auch nicht mit einem Impfnachweis oder anderen aktuellen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vergleichbar, weil der «Ahnenpass» Auskunft über die ethnische Herkunft gibt, die vom jeweiligen Individuum nicht verändert werden kann. Ein Impfpass bescheinigt hingegen lediglich das Vorliegen einer Impfung. In viele Länder ist ohne bestimmte Impfungen, die im Impfpass vermerkt sind, schon seit Jahrzehnten keine Einreise möglich.

Übrigens wenden sich Vertreter der Opfer des Holocaust immer wieder gegen einen Vergleich der Verfolgung im Nationalsozialismus mit Einschränkungen im Kampf gegen die Corona-Pandemie. So hat die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Mauthausen in einer Erklärung unter anderem festgehalten: «Einschränkungen im Alltagsleben und eine anstehende Impfpflicht sind mit den Taten der Nationalsozialisten in keiner Weise zu vergleichen. Sich auf eine Stufe mit Opfern dieser Verbrechen zu stellen, weil man vorübergehend nicht alle gewohnten Annehmlichkeiten genießt, ist eine unerträgliche Anmaßung.»

(Stand: 22.12.2021)

Links

Facebook-Post I, archiviert

Facebook-Post II, archiviert

Facebook-Post aus Österreich, archiviert

Buch zum Gesundheitspass

Historisches Museum zu Einführung Arierparagraf, archiviert

Historisches Museum zu Ahnenpass, archiviert

Historikerin Kesteloot

Forschungszentrum CegeSoma

Schulbesuch jüdischer Kinder, archiviert

Erklärung Mauthausen, archiviert

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