Gedicht über Ungeimpfte von «Titanic»-Autor, nicht von Tucholsky

3.12.2021, 11:22 (CET)

Der Schriftsteller und Journalist Kurt Tucholsky hat seine Zeitgenossen mitunter mit spitzer Feder aufs Korn genommen. Doch schaltete er sich in Zeiten der Weimarer Republik tatsächlich auch in die damalige Diskussion über medizinische Errungenschaften wie das Impfen ein? Das jedenfalls suggeriert ein vermeintliches Gedicht mit dem Titel «Zur Versachlichung der Impfdebatte», das Ende November 2021 durch die sozialen Medien geistert (archiviert).

Bewertung

Nein. Das Gedicht stammt nicht von Tucholsky, sondern ist eine aktuelle Satire-Aktion.

Fakten

Es klingt wie eine Generalabrechnung mit Impfverweigerern: Angeblich soll sich Tucholsky in seinem Gedicht Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, ins Gefängnis gewünscht haben. «Sie fallen allen nur zur Last», heißt es etwa in der dritten Strophe. Doch stammt das Gedicht weder von Tucholsky, noch wurde es in der damaligen Zeitschrift «Die Weltbühne» von 1928 abgedruckt.

Es entstand vielmehr im Umfeld des Satire-Magazins «Titanic». Dessen Autor Cornelius W. M. Oettle twittert die Zeilen als Screenshot zum ersten Mal am 26. November 2021: «Krass wie dieses Tucholsky-Gedicht zur Diphtherie-Impfung in die heutige Zeit passt», schreibt er mit Blick auf die derzeit geführte Debatte über eine mögliche Impfpflicht in der Corona-Pandemie.

Kurz darauf gibt sich der Satiriker selbst als wahrscheinlicher Urheber der Zeilen zu erkennen: «Tucholsky hatte sich beim Schreiben wohl am 2019 erschienenen Gedicht "Zur Versachlichung der Böllerdebatte" von Cornelius W. M. Oettle orientiert.»

Dennoch wird das Gedicht in sozialen Medien weiterhin fälschlicherweise Tucholsky zugeschrieben - häufig ohne den Hinweis, dass es sich dabei um eine aktuelle Satire-Aktion handelt.

Bereits am Tag nach Veröffentlichung bei Twitter teilt die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft auf Facebook mit: Nicht allen sei aufgefallen, «dass der Text unmöglich von Tucholsky stammen konnte». Die Experten haben das Gedicht mittlerweile in ihre Liste der falschen Tucholsky-Zitate aufgenommen.

Die Gesellschaft verweist zudem auf einen Artikel des Tucholsky-Kenners Friedhelm Greis. Dieser schreibt, die Zeilen hätten so wenig mit Tucholsky zu tun wie die «Titanic» mit der «Weltbühne». «Von daher ist es keine Tucholsky-Parodie, sondern lediglich der Versuch, mit der Zuschreibung zu einem bekannten Autor und der Datierung in eine völlig andere Epoche mehr Aufmerksamkeit zu generieren.»

Zwar gebe es, so Greis, Fundstellen zum Impfen in Tucholskys Werk. Diese seien aber eher ein Ausdruck davon, wie selbstverständlich das in der damaligen Zeit gewesen sei. «Als Jurist hat sich Tucholsky hingegen nicht zu medizinischen Fragen des Impfens geäußert.»

Die Ausgaben der «Weltbühne» aus dem Jahr 1928 sind alle online einzusehen. Weder in der ersten noch in der zweiten Jahreshälfte ist ein Gedicht mit diesem Titel oder dem entsprechenden Inhalt zu finden. Zudem ist die Diphtherie-Impfung seinerzeit noch gar nicht zugelassen. Das geschieht erst 1936.

Nach Ansicht des Zitateforschers Gerald Krieghofer ist das nun verbreitete Gedicht «ein ziemlich plumper Versuch, ein paar Verse als angebliches Kurt-Tucholsky-Gedicht unter die Leute zu bringen». Den Witz am Ende, in dem Ungeimpften zunächst nur das Gefängnis drohe, bezeichnet er als «grausam geistlos».

(Stand: 1.12.2021)

Links

Oettle-Tweet mit vermeintlichem Tucholsky-Gedicht (archiviert)

Oettle-Tweet mit Auflösung zum vermeintlichen Tucholsky-Gedicht (archiviert)

Tucholsky-Gesellschaft über vermeintliches Tucholsky-Gedicht (archiviert)

Hinweis der Tucholsky-Gesellschaft auf Greis-Text (archiviert)

Liste der falschen Tucholsky-Zitate der Tucholsky-Gesellschaft (archiviert)

Tucholsky-Kenner Greis über vermeintliches Tucholsky-Gedicht (archiviert)

«Weltbühne»-Ausgaben des Jahres 1928 Teil 1 und Teil 2

Wissenschaftlicher Artikel über Geschichte des Impfens (archiviert)

Zitateforscher Krieghofer: «plumper Versuch» (archiviert)

Zitateforscher Krieghofer: «grausam geistlos» (archiviert)

Facebook-Post mit vermeintlichem Tucholsky-Gedicht (archiviert)

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